Das niederländische Gärtnergeschlecht van Spronsen hatte um 1900 im Westland bei Den Haag die Geburt der Gläsernen Stadt erlebt. Die unternehmerisch denkende Familie suchte nach Expansionsmöglichkeiten und fand diese Anfang des vorigen Jahrhunderts im deutschen Oderbruch. „Berlins Gemüsegarten“ machte bereits vor dem Ersten Weltkrieg Furore, mit van Spronsens moderner Gewächshauszucht an erster Stelle.
Zu der Zeit, als die junge DDR die Letzten der van Spronsens mit Enteignungen zurück in die Niederlande trieb, kam der junge Ungar Gergely Kosdi, auf der Flucht vor den Sowjetpanzern in seinem Land, ins niederländische Westland. Er wurde Gurkenzüchter und heiratete Helga van Spronsen, die 1938 im Oderbruch zur Welt kam und eine deutsche Mutter hat. Gergelys und Helgas Sohn baut seit fünfzehn Jahren Paprikas an – in Ungarn.
Das Buch “De tomaat en de bizarre wereld van vers voedsel” von Annemieke Hendriks (Milena Jesenská Visiting Fellow 2013) ist im September 2016 auf Niederländisch erschienen (Verlag Nieuw Amsterdam).
Die deutsche Übersetzung "Tomaten. Die wahre Identität unseres Frischgemüses, eine Reportage" wurde 2017 vom be-bra verlag veröffentlicht.
Der Prolog des Buchs, eine Familiengeschichte in vier Teilen, wurde in deutscher Übersetzung auf Transit online vorgestellt.
1. Kapitel: Ein Niederländer auf den Spuren seines ungarischen Vaters
Sandor Kosdi in Hajdúdorog
Übersetzung: Gerd Busse
2. Kapitel: ‘Klein-Holland’ im Oderbruch
Walter und Frank Schütz in Manschnow
Textredaktion: Ute Schürings
3. Kapitel: Daheim an der Nordseeküste
Helga Kosdi-van Spronsen und ihre Odyssee
Übersetzung: Gerd Busse
4. Kapitel: Der Untergang des regionalen Gartenbaus
Wo ist es nur, das Frischgemüse für Berlin?
+ Epilog und Ausblick
Textredaktion: Ute Schürings
Das Buchprojekt, dessen Prolog hier vorgestellt wird, wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung von:
- Fonds Bijzondere Journalistieke Projecten – Amsterdam, NL
- Journalismfund.eu – Brüssel, EU
- Fonds Pascal Decroos – Zellik, BE
- Nederlands Letterenfonds – Amsterdam, NL
- Uitgeverij Nieuw Amsterdam, NL
- ERSTE Stiftung – Wien, Ö
- Institut für die Wissenschaften vom Menschen – Wien, Ö
Ein Niederländer auf den Spuren seines ungarischen Vaters – Sandor Kosdi in Hajdúdorog
Die ostungarische Tiefebene kann im Sommer ein flimmernd heißes Becken und im Winter eine eisige Steppe sein, um sich im Frühjahr in eine tobende Sturmlandschaft zu verwandeln. Für einen Jungen, der wie Sandor Kosdi aus dem holländischen Polder stammt, bleibt es gewöhnungsbedürftig. Zum Glück hat er noch ein paar wiederhergerichtete Gewächshäuser voll mit Paprikastecklingen, die gut aussehen. Die Paprikas hängen bereits im Miniformat an der Pflanze.
Ein holländischer Gemüsebauer in der ungarischen Tiefebene
Sandor Kosdi ist Paprikazüchter, was in Ungarn eigentlich ganz normal klingt. Doch das ist es längst nicht mehr. Kosdi züchtet für den Export eine ganze Reihe von Paprikasorten, von den typisch ungarischen, spitzen, bis hin zu den viereckigen Blockpaprikas. „Ein Leben bestehend aus Sichabrackern und Unsicherheit“, so fasst er es zusammen. Als Puffer züchtet er zusätzlich Kohlsorten und Zuckermais für den menschlichen Verzehr. „Manchmal bringen die Maiskolben so wenig ein. Kannst du mal schauen, was sie im Berliner Supermarkt kosten?“ Er weiß nur allzu gut, dass die Antwort nicht verraten wird, was der Züchter daran verdient.
Das Telefon klingelt. Nach einem kurzen Gespräch: „Gute Nachrichten! Ein Händler braucht Blumenkohl. Ich habe gut tausend da. Das weiße Gold in schlimmen Zeiten, mein Blumenkohl. Sie sind jetzt gerade für kurze Zeit knapp. Sobald sie etwas teurer werden, kommen aber sofort billige Partien etwa aus Italien. Und dann bleibe ich darauf sitzen.“ Kosdi schickt ein paar Leute zum Blumenkohl und geht hinterher. „Weißt du, was mir neulich passiert ist? Ich wurde von einem örtlichen Markthändler angerufen. Er hätte gehört, dass beim Lidl in Debrecen Broccolis lägen, die so billig wären, dass man sogar weniger dafür bezahlen würde als beim Großhandel. Ich verkaufe meinen Kohl auch auf dem Markt in Debrecen, der Großstadt dicht an der Grenze zu Rumänien. Er sagt also: Bring mal eine Partie Broccoli für mich mit zurück. Die hat er auf dem Markt hier in Hajdúdorog verkauft!”
„Sind sie nicht absurd, die Preise?“ Was Kosdi so alles erlebt, ist symptomatisch für die Gesetze des Europäischen Marktes. „Warum kann man hier so billige Möhren und Zwiebeln aus den Niederlanden und Belgien kaufen? Meine liegen frisch in meinem Lädchen. Ich müsste sie teurer verkaufen, um etwas daran zu verdienen, aber na ja …“
Sein „Lädchen“, das ist ein offener Schuppen mit Schilfdach. Es markiert den Anfang seines Landes: eine Bake in der flachen Puszta. Dort verkauft Kosdi alles Mögliche für den lokalen Bedarf – auch das Ergebnis kleiner Experimente. „Ich habe von Bejo aus Enkhuizen Saat für rosa Tomaten bekommen. Die kosten normalerweise zwanzig Cent das Stück! In den Niederlanden selbst werden sie nicht gezüchtet, rosa Tomaten, aber in dieser Region ist man verrückt danach. Wir werden sehen.“ Paprikastecklinge hat Kosdi reichlich im Angebot. Die Paprikas selbst fehlen noch. Sie sind in Ungarn, genau wie Tomaten, Saisongemüse. Das ist Teil der ungarischen Tragik.
“Gärtner war eigentlich das Letzte, das ich werden wollte”
Als kleiner Gemüsebauer, mit fünfzehn Hektar Boden in Ostungarn, wovon ihm acht selbst gehören, fehlt es ihm ständig an Zeit. Er ist Züchter, Erzeuger und Verkäufer, Verwalter, Gewächshaus- und Häuslebauer in einer Person, außerdem noch Vater von vier Kindern und Ehegatte. Darüber hinaus hat er, als Sohn einer niederländischen Mutter aus einem vornehmen Gärtnergeschlecht, den van Spronsens aus dem Westland, die Ehre hochzuhalten. In ein paar Wochen ist Mutter Helga wieder einmal für einen Monat zu Gast. Nur allzu gern hätte er dann den Anbau an seinem bescheidenen Haus, einer umgebauten kleinen Csárda, ursprünglich eine Pusztaschenke, fertig gehabt. Doch die Produktion geht wie immer vor. „Mein Vater hat gesagt: Sorg erst dafür, dass du etwas verdienen kannst. Er hat mit eigenen Händen den großen Schuppen für mich gebaut, das Erste, was hier fertig war. Man kann auch erst ein schönes Haus bauen, dann hat man ein Pfand für die Bank. So machen das die Deutschen. Tja, was ist klüger? Jetzt ist das Geld alle – vorübergehend, hoffe ich.“
Gärtner war eigentlich das Letzte, was Sandor Kosdi werden wollte. Er kennt den Wahnsinn der Gewächshauszucht von zu Hause aus den Niederlanden. „Diesen Mahlstrom aus immer mehr und immer größer und innovativer, um noch ein akzeptables Einkommen zu haben. Mein Bruder in den Niederlanden arbeitet mit seinen energieverschlingenden Megagewächshäusern, so wie es aussieht, vor allem für die Bank. Es braucht nur eine Kleinigkeit zu passieren … Er war mitten in der Gurkenernte und konnte sie wegen der Ehec-Katastrophe nicht loswerden. Der Fehler eines deutschen Beamten, der die Gurke zur Infektionsquelle erklärt hatte.“ In den zurückliegenden fünfzehn Jahren haben sechzig Prozent der niederländischen Gewächshausbetreiber aufgegeben. Der Rest produziert für zwei. „Der Stress ist nichts für mich. Ich bin ohnehin schon ein ziemlich nervöser Typ.“
„Ich hatte immer einen Hang zu Ungarn“, erzählt Kosdi. „Als ich um die dreißig war, 1997, bin ich aus Holland emigriert. Man ist jung und möchte mal etwas ausprobieren.“ Er fing bei Amstel Ungarn an und machte sich anschließend selbständig, unter anderem im Blumenhandel, mit einem Partner. Es war kein Erfolg. Was macht man dann? „Von Gemüseanbau und Handel hatte ich absolut keine Ahnung. Ich habe ein Ingenieur-Diplom. Das hilft ein bisschen, so habe ich aus einer alten russischen Fräsmaschine einen Apparat zum Aufdecken der Folien auf den Gewächshäusern konstruiert. Ja, letztendlich ist es dann doch der Gartenbau geworden. Jetzt, wo ich darüber nachdenke: Mein Vater ist auch erst in einem fremden Land Gärtner geworden. Wenn es schlecht bei mir läuft, in einer Saison mit viel Sturm und Hagel oder mit Großhändlern, die meine Paprikalieferungen nicht bezahlen, denke ich an meinen Vater. Er kam auch von weit her und hat mit nichts angefangen. Und er hat es geschafft, mit seinen Gurken.“
Von Ungarn nach Holland und wieder zurück
Sandors ungarischer Vater Gergely Kosdi flüchtete 1956 vor den Sowjetpanzern, die den Aufstand gegen den Kommunismus in seinem Land erstickten. „In Österreich hat man ihn gefragt, wo er hin wollte. ‚Nach Hollandʻ, hat er gerufen. Er ging gern ins Kino und hatte einen Film über niederländische Gärtner gesehen, so hat er mir erzählt, die mit allerhand technischen Finessen Tomaten und Gurken züchteten. Keine Paprikas, denn die kannte man in Holland damals überhaupt nicht.“
Neunzehn war Sandor Kosdis Vater damals. Er fand tatsächlich Arbeit in den Gewächshäusern im Westland, dem ausgedehnten Gartenbaugebiet entlang der Küste bei Den Haag, das man als „Die Gläserne Stadt“ kannte. Dort begegnete Gergely Kosdi eines Abends beim Tanz Helga van Spronsen – nicht zufällig eine Gärtnerstochter. Gergely wurde Gurkenzüchter und gründete mit Helga eine Familie. Und als es dann später möglich war, machte die kleine Familie Urlaub bei seiner Familie im kommunistischen Ungarn. „Während des Ingenieurstudiums konnte ich ein Praktikum im Ausland machen. Na, ich wusste schon, wo. Das war kurz vor dem Mauerfall. Mich hat das alles sehr beeindruckt. Die Computer hier waren moderner als die in den Niederlanden! Als der Eiserne Vorhang an der Grenze zu Österreich aufging, saß ich schon wieder zu Hause. Das habe ich komischerweise nicht so miterlebt.“
Kurz darauf lernte er seine zukünftige Frau kennen – nicht zufällig eine Ungarin. Ihre Familie kommt aus der Region, der armen ostungarischen Puszta. „Als wir nach Hajdúdorog umzogen, hat mein Vater noch einen ungarischen Pass für mich organisiert. Ein Niederländer konnte hier kein Land kaufen, und das ist noch immer schwierig. O je, mein ungarischer Pass ist abgelaufen, fällt mir gerade ein. Und den niederländischen muss ich auch noch verlängern lassen. Tja, was bin ich jetzt?“
Wenn man mit dem Zug in Hajdúdorog ankommt, glaubt man sich in den Niederlanden. Es weht ein steifer Wind. Bei dem kleinen Bahnhof gibt es einen Fahrradständer, sogar mit einem Dach darüber. Manch einer steigt direkt aus dem Zug auf sein Fahrrad. Die Familie Kosdi wohnt ziemlich abgelegen außerhalb des Dorfkerns. Die Kinder sind hier geboren und sprechen kein Niederländisch. Sandor Kosdi wird hier jedoch „der Holländer“ genannt. Und so fühlt er sich auch, oder vielleicht hier erst so richtig. Sein halbfertiges Haus ärgert ihn, das ist der kalvinistische Niederländer in ihm. „All die Unordnung hier auf dem Gelände, all das, was nicht fertig ist … Ich bin einer, der ständig aufräumen muss.“
Doch an diesem windigen Morgen des 1. Juni muss Blumenkohl geliefert werden. Sandor Kosdi begibt sich damit zum Gemüseladen des Dorfes. Er sieht sich dort immer gut um. Es gibt reichlich Paprikas im Angebot, das fällt auf. Die beliebten, vorn spitz zulaufenden, weißen ungarischen Paprikas sehen ziemlich verschrumpelt aus und sind daher jetzt billig. Die Sorte hält sich nicht lange. Kosdi: „Frisch kosten sie ansonsten sicher zwei Euro das Kilo, im Einkauf!“ Sie kommen aus Südungarn, aus der bescheidenen Warmzucht unter Glas, mit der das Land versucht, den Jahreszeiten zu trotzen. Daneben liegen stolze viereckige rote Paprikas aus Holland und etwas dunklere rote aus Spanien. Beide kosten gut und gern vier Euro das Kilo.
Doch wer im „Paprikaland Ungarn“ kauft die teuren Importpaprikas? Nahezu alle Ungarn, die man danach fragt, schwören, dass sie nur ungarische Paprikas mögen und diese erst in der Saison essen. Dann sind sie frisch und preiswert. Nun ja, zu Garnierungszwecken kaufen sie schon mal so eine „bittere, steinharte“ Blockpaprika aus dem Ausland. Ansonsten sind sie nämlich „selbst gekocht nicht durch den Hals zu kriegen“, fügen sie gleich hinzu.
Auch auf dem Dorfmarkt von Hajdúdorog sieht Sandor Kosdi teure niederländische und spanische Blockpaprikas, auch Kalifornien-Paprikas genannt. Und in den Supermärkten der nahen Großstadt Debrecen liegen sie ebenfalls aufgetürmt da. Es sind so viele, dass der Ungar Tausende von Banketts damit garnieren könnte, hübsch Ton in Ton aus diversen Rottönen. Oder, nach Wahl, mit Gelb- oder Grüntonen gespickt. Denn in den städtischen Supermärkten und Discountergeschäften liegen außerdem die bekannten Trikolore-Beutel in ihrer „Ampelverpackung“, mit einer roten, einer gelben und einer grünen Blockpaprika. Manchmal steht handschriftlich „Spanyol“ daneben, doch laut Verpackung stammen sie von ABC Westland 545, 2685 DG Poeldijk“, also aus den Niederlanden. Na ja, sie sehen völlig austauschbar aus.
Wer kauft viereckige Paprika?
Was noch merkwürdiger ist: Wenn die ungarische Paprikasaison erst einmal losgeht, verschwinden diese westeuropäischen Paprikas nicht aus den Regalen. Manchmal werden die Preise gesenkt, doch sie sind durchweg zwei bis dreimal so teuer wie die ungarischen. Ja, sie kosten sogar mehr, viel mehr, als die Paprikas, die es zur selben Zeit in Deutschland, den Niederlanden, Spanien oder Österreich zu kaufen gibt.
Aber wer kauft die viereckige Paprika denn? Der Leiter der staatlichen ungarischen Handelsorganisation für landwirtschaftliche und Gartenbauprodukte gab auf eine entsprechende Frage hin vor ein paar Jahren eine lange, bedächtige Antwort. Zusammengefasst: „Im Prinzip kauft niemand von hier sie, selbstverständlich. Wäre es nicht so, dass die internationalen Supermarktketten kein einheimisches Gemüse im Sortiment haben wollen.“ Aber dann kauft der Ungar seine weißen und auch roten, spitz zulaufenden Paprikas doch auf dem Markt oder beim Gemüsehändler? Das tue er auch, sagte er, in der Saison. Nun ja, der Landwirtschaft und dem Gartenbau gehe es in seinem Land nicht so gut, gab er zu.
2003, ein Jahr, bevor Ungarn der Europäischen Union beitrat, hatte derselbe Leiter des ungarischen Obst- und Gemüsemarktes in einer Fachzeitschrift noch laut gerufen, dass er „vor der niederländischen Konkurrenz keine Angst“ habe. Eher noch vor der spanischen, doch da werde die Qualität der ungarischen Paprika siegen. Ein Mittel dagegen hatte er in diesen zehn Jahren daher auch nicht entwickelt. Er dachte nicht in Begriffen unterstützender Maßnahmen für die Obst- und Gemüsebauern in seinem Land, sondern in Imperativen. Man solle als gute Ungarn einfach mehr nationale Waren kaufen. Und die Paprika müsse eine geschützte Marke werden, „so wie unser Pálinka.“
Wie kam die Paprika nach Europa?
Dazu wird es nicht kommen. Die Paprika stammt ursprünglich aus Mittel- und Südamerika, ist also nicht original ungarisch. Und es waren die Ottomanen, also türkische Herrscher, die den Ungarn beibrachten, dass man diese „Zierpflanze“ essen konnte. Auf breiter Front taten sie dies erst im Habsburger Reich um 1800. Dies war wiederum den Talenten der bulgarischen Gärtner im Reich zu verdanken. Zugegeben, es war ein Ungar, der 1937 mit seiner Entdeckung der Paprika (wörtlich: „Pfeffer“) als Vitaminbombe den Nobelpreis für Medizin gewann. Und von Ungarn aus ist die Paprika schließlich in den Niederlanden und Deutschland gelandet, das schon.
Der ungarische Staat hätte das Elend für den kleinen Gärtner voraussehen können. Nach dem Fall der Mauer hatten viele – wenn auch mit Mühe – kleine Parzellen alten Familienbesitzes zurückbekommen. Und was machte man als Erstes? Das Stückchen Land einzäunen, wobei die Wasserleitungen der verhassten Kolchosen oft einfach kaputtgeschlagen wurden. In den vom kommunistischen Regime erzwungenen kollektiven Landwirtschaftsbetrieben war kaum Paprika produziert worden; in den kleinen Privatgärten dafür umso mehr. Diesen Kleingärten, aus denen auch verkauft werden durfte, verdankte die Volksrepublik Ungarn ihren Ruf des „Gulasch-Kommunismus“: ein bisschen freier Markt und somit gutes Essen.
“Überfall auf den Ungarischen Markt”
Die Paprikazucht wurde nach 1989 in größerem Stil fortgesetzt. Es gab genug Ungarn, die nun von ihrem Grund und Boden zu leben versuchten. Ohne Subventionen und professionelle Ausrüstung war das kein Vergnügen. Kleine Familienbetriebe ohne Personal hatten die besten Perspektiven – neben einer begrenzten Anzahl neuer, großer Kooperativen auf professionellem Niveau. Doch schon bald nach dem Sturz des alten Regimes begann, was viele hier den „Überfall auf den ungarischen Markt“ nennen. Eine Flut von Importwaren, einschließlich frischen Gemüses, kam auf Ungarn zu, und diese Flut sollte im Laufe der Jahre sogar noch anschwellen.
Die neuen Supermärkte lockten mit Schnäppchenpreisen, beispielsweise für die massenhaft ausgelegten westeuropäischen Blockpaprikas. Die Bevölkerung kaufte sie dankbar. In der Hektik des neuen kapitalistischen Lebens gab man den eigenen kleinen Gemüsegarten dann gern auf. Doch irgendwann begannen die Supermarktpreise zu steigen.
Aktuelle Studien zeigen, dass der Ungar für einen Warenkorb bereits fünfzehn Prozent mehr bezahlt als der Österreicher, der ein gutes Stück mehr verdient. Die ungarischen Nahrungsmittelproduzenten profitieren kaum von den steigenden Preisen. Zwanzig Jahre nach Öffnung des Eisernen Vorhangs waren in Ungarn weniger als zehn Prozent der Waren im Supermarkt noch inländischen Ursprungs, so die Zahlen der südungarischen Handelskammer. Außerdem kämpfen die Produzenten häufig mit veralteter Technologie, so wie Sandor Kosdi, der nur allzu gern ein holländisches Glasgewächshaus dazu hätte. „Das würde mir mindestens das Sechsfache an Paprikas einbringen. Aber man kann hier von der Bank keinen bezahlbaren Kredit kriegen.“
Der Nachgeschmack des Kommunismus
Der kleine Gemüsebauer, der Paprikaproduzent im familiären Setting, kommt mit seinen weißen und roten Spitzpaprikas bei den Supermarktketten kaum zum Zuge. Nicht, weil die internationalen Unternehmen etwas gegen ungarische Paprikas hätten – wie es der Vertreter der staatlichen Handelsorganisation angedeutet hatte –, sondern weil das Angebot zu klein, zu wenig konstant hinsichtlich Qualität und Form sowie zu sehr saisonal gebunden ist. Ein Umstieg auf Blockpaprikas würde deshalb auch nichts nützen
Wenn man mit Ungarn, nicht mit Paprikaerzeugern im Speziellen, so richtig ins Gespräch kommt, lassen sie häufig noch eine weitere Katze aus dem Sack. Eine, bei der man die Schuld nicht beim Staat oder bei „Europa“ sucht, sondern bei sich selbst – oder besser: „dem anderen.“ Es herrscht auffallend viel Misstrauen, Neid und asoziales Verhalten zwischen den Menschen. Ungarn stimmen dem zu, und nicht nur die Älteren. Sie erklären diese Haltung mit dem Kommunismus, als „die Menschen gegeneinander ausgespielt wurden“, sowie mit der postkommunistischen Korruption an der Spitze der Verwaltung, „die ein schlechtes Beispiel gibt.“
Sich als Erzeuger in einer Genossenschaft organisieren, damit man zusammen die Faust gegenüber den Supermärkten ballen kann? Vergiss es. „Genossenschaften hauen dich übers Ohr“, hört man dann. Die Paprikazüchter scheinen ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen auch lieber nicht miteinander zu teilen, geschweige denn ihre Sachen. Ein Sprichwort von hier lautet: „Die Kuh des Nachbarn möge tot umfallen.“
Manchmal wird die Stimmung grimmig. Dann hört man einen jungen Paprikazüchter plötzlich gegen „die Multis und die Juden“ wettern, die den Ungarn dies alles angetan haben. Das Volk murrt wegen seines zu teuren Einkaufs und seiner verlorenen Jobs. Wenn die politische Führung des Landes noch ein klein wenig nationale Emotion hinzufügt, erscheint die Europäische Union, die sich zuerst als der Weihnachtsmann präsentierte, der Geschenken bringt, in der ungarischen Sicht rasch als Wolf im Schafspelz.
Sandor Kosdi kennt die peinvolle Vergangenheit Ungarns kaum aus eigener Erfahrung. Groll ist etwas, das ihm fern liegt, und nationalistische Gefühle sind ihm fremd. Das Land zog ihn einfach an. Doch er scheitert regelmäßig an dieser Mentalität. „Ich müsste eigentlich mehr produzieren und vor allem auch effizienter handeln, um als Betrieb zu überleben. So möchte ich einen sehr guten Lastwagen anschaffen, vorzugsweise zusammen mit Gärtnerkollegen. Dann kann man Waren derselben Qualität außerdem gemeinsam transportieren. Aber na ja, zusammenarbeiten in Ungarn?“
“Wenn ich ehrlich bin, bin ich glücklicher.“
Manchmal stehe es ihm bis hier, seufzt er. In einer solchen Stimmung hat er dem ungarischen Online-Magazin Agrár Unió einmal anvertraut: „In Ungarn herrscht eine erbärmliche Arbeitsmoral“, so kann man es in dem Interview mit ihm lesen. Er illustrierte seine Behauptung mit Beispielen, die es in sich haben. Frei übersetzt: „Letzten Juni hatte ich fünfzigtausend reife Maiskolben, und die mussten zu deutschen Supermärkten transportiert werden. Es sind nicht genug Kisten an mich zurückgeliefert worden, und viele davon waren auch kaputt … In Ungarn ist das Einhalten von Verträgen ein Riesenproblem, vor allem auch, was das Zurückbekommen der eigenen Sachen angeht. In den Niederlanden mietet man die Sachen von einer Genossenschaft – und hat weiter nichts damit zu tun.“
„Da flog auch noch ein Rad vom Lastwagen“, spottet Kosdi jetzt. Er steht in der Tat überall allein vor der Arbeit. „In den Niederlanden nehmen dir die Erzeugervereine sehr viel Arbeit ab. Meine Eltern brauchten beispielsweise kaum Verwaltungskram zu machen. Nächste Woche steht der Mann vom Finanzamt wieder bei mir vor der Tür, ein äußerst undurchsichtiges System … Ich habe es jetzt schon an den Nerven.“
Ehrlichkeit ist etwas für die Dummen, sagt man hier. „Machst du beim Bluffen und Lügen nicht mit, guckst du in die Röhre. Na ja, in den Niederlanden wird auch ganz schön geschummelt, allein schon die Offshore-Steuerparadiese, von denen man jetzt liest …“ Sandor Kosdi wundert sich über die menschlichen Unzulänglichkeiten. Er selbst ist eher ein sanftmütiger Zauderer. „Dann werde ich eben nicht reich. Wenn ich bei dem, was ich tue, ehrlich bin, bin ich auch glücklicher.“
Um christlich zu handeln, muss er nicht in die Kirche gehen, „ich wüsste nicht, in welche, zu viel Auswahl.“ Seine Frau findet in diesen schweren Zeiten Unterstützung bei den Zeugen Jehovas im Dorf. Intensive Unterstützung, doch im Gegenzug erwartet man eine ebenso intensive Teilnahme am Leben der Glaubensgemeinschaft im Dorf. Das nimmt nahezu das gesamte Wochenende in Beschlag. Sie nimmt die Kinder oft mit. Ehegatte Sandor rackert sich derweil auf Gottes Acker ab.
Zukunftsängste im “Paprikaland Ungarn”
Er kann schon verstehen, dass das Leid die Menschen abstumpft. „Viele sehen keine Zukunft, wissen nicht, wovon sie leben sollen. „Dann ist es begreiflich, dass ein Großteil des einheimischen Gemüses auf einem grauen Mark gehandelt wird, an der Haustür und schwarz auf den Märkten oder unter der Hand. „Sonst schafft es der kleine ungarische Gärtner nicht.“ Die offiziellen Zahlen über die ungarische Paprikaproduktion müssen also schon ein wenig nach oben korrigiert werden.
„Ich war zu höflich und zu gutgläubig“, erzählt Kosdi. „Bei uns gab es am Anfang beispielsweise jeden Tag Kaffee für das Personal. Na ja, jetzt nicht mehr. Das macht hier keiner, und es wird dadurch auch nicht wirklich besser gearbeitet. Und Alkohol gibt es auf meinem Land auch nicht mehr, außer zu besonderen Anlässen.“ Der holländische Ungar ist inzwischen auch ein Europäer geworden, und das genießt er. „Außerhalb der Hauptsaison, so wie jetzt, habe ich zwölf Mitarbeiter: Ungarn, Ukrainer, Rumänen: Sind wir hier nicht international! Sieh mal, meine phantastische Ukrainerin steckt jetzt die Kohlsaat in Hunderte von kleinen Töpfen mit Erde … Ach, ich habe mich ja selbst für dieses Leben entschieden.“
Kosdi weiß nur allzu gut, dass die wichtigste Ursache des Problems mit dem Paprikahandel nicht in der Qualität seiner Waren, in seinen Geschäftspartnern, seinen kaufmännischen Entscheidungen und seinem Personal besteht. „Paprikaland Ungarn“ zählt beim europäischen Gemüsehandel nicht wirklich mit, da dieser Handel nach Gesetzen funktioniert, die nicht in diesem Land gemacht worden sind. Solche Regeln sind in der Nachkriegspraxis entstanden, und zwar im westeuropäischen Kräftefeld. Die ehemaligen Ostblockländer sind in diesem Spiel vor allem als neuer Absatzmarkt gedacht.
Konkurrenz am europäischen Markt
Spanien allein produziert mehr Paprikas als die Niederlande, Italien, Ungarn und Rumänien zusammen – die Top-Fünf in der EU. Die Niederlande produzieren inzwischen mindestens zweimal so viele Paprikas wie Ungarn. Und die werden nicht im eigenen Land gegessen, so wie der Großteil der ungarischen Paprikas. Die niederländische Paprika wird für den Export produziert und landet vor allem auf dem deutschen Markt.
Trotzdem werden die Niederlande mindestens in einem Atemzug mit Spanien genannt, wenn es um den Exportpaprika geht. Die Niederlande sind nämlich Exportweltmeister in frischem Gemüse. Kein Land der Welt führt so viel Frischgemüse aus, allem voran Tomaten, Zwiebeln und Paprikas, wie dieser Winzpolder, der nur 0,008 Prozent der Erdoberfläche ausmacht. Der Clou ist der, dass lediglich ein Teil dieses Exports aus eigener Produktion stammt. Es ist der Handel, der die Niederlande an die Spitze des Weltklassements geführt hat.
Wie dieser Prozess funktioniert, lässt sich ausgezeichnet an den Ampelverpackungen der Paprikas in den internationalen Supermarktketten zeigen. Manchmal stammen alle drei Paprikas aus Spanien, obwohl sie in Poeldijk verpackt worden sind. Es kann auch sein, dass der rote Paprika in den Niederlanden, der gelbe in Israel und der grüne in Spanien erzeugt worden ist – oder umgekehrt. Die Niederlande liefern solche „Trikolore“-Beutel das ganze Jahr über. Das Land importiert nämlich zuerst Riesenmengen an Paprikas und führt sie anschließend wieder aus. Das nennt man „Wiederausfuhr“, also Handel.
Ein solch konstanter Strom an Paprikas mit konstanter Form und Qualität, und aus einem vertrauenswürdigen Herkunftsland, wird von den internationalen Supermarktketten geschätzt. Lidl oder SPAR Ungarn geben an, dass sie nicht mehr als einen bestimmten Betrag für Paprikas bezahlen wollen. „Und wer liefert sie?“ Diese rhetorische Frage wird vom niederländischen Großhandelsbüro für Obst und Gemüse gestellt, wo man komplizierte Dinge einfach erklären kann: „Die Niederlande! Wir können immer liefern. Und so ungefähr zum niedrigsten Herstellungspreis der Welt.“
Die niederländischen Züchter, Im- und Exporteure sowie angelagerte Betriebe wie Transporteure und Verpacker sind nämlich ausgezeichnet organisiert. So können die Holländer im Spiel mit den multinationalen Supermarktketten gemeinsam auftreten, auch wenn sie natürlich von dem abhängig sind, was die Ketten ausgeben wollen. Der SPAR war ursprünglich eine niederländische Genossenschaft, und der Name sagt es schon: Door Eendrachtig Samenwerken Profiteren Allen Regelmatig – Durch einträchtige Zusammenarbeit profitieren alle regelmäßig.
Nur ein halbes Prozent der Paprikas aus Holland landet in Ungarn. Es ist, zusammen mit den spanischen, genug, um den ungarischen Markt durcheinanderzubringen. Aber kaufen die Ungarn diese teuren Blockpaprikas in ihren Supermärkten denn trotzdem, auch wenn sie das Gegenteil behaupten? Ja sicher, vor allem im Winter, wenn auch in begrenztem Umfang. Seit der Wirtschaftskrise im Land ist die Nachfrage nach Paprika ohnehin um zwanzig Prozent gesunken. Doch den westeuropäischen Paprikazüchtern macht die rückläufige Entwicklung nicht viel aus. Der Herstellungspreis ihrer Paprika ist sehr niedrig – nicht zuletzt dank der europäischen Subventionen für organisierte Züchter. Und der Absatz ist sehr groß. Eine große einförmige Masse frisches Gemüse, darunter Paprika, wird zu den internationalen Supermärkten und Discountern durchgelotst. Der Einkaufspreis für die Paprika tut diesen Ketten ebenfalls nicht weh. Zudem können sie die Blockpaprikas schier endlos in der Auslage liegen lassen, bis sie schlaff werden, und sie schmücken den Laden allerliebst.
Die Genossenschaft bestimmt, wo die Paprikas landen
So gehen die Paprikas hin und her über den europäischen Kontinent. Sandor Kosdi verkauft seine ungarischen Spitzpaprikas, ebenso wie seinen zum menschlichen Verzehr geeigneten Mais, dann doch über so eine verabscheuenswürdige regionale Genossenschaft, an der er im landwirtschaftlichen Online-Magazin noch sein Mütchen gekühlt hatte, weil die Logistik dort überhaupt nicht funktioniere. „Mein Gemüse landet in Deutschland, bei Aldi und Kaufland beispielsweise, und in Skandinavien. Nein, nicht in den Niederlanden. Ich habe darauf keinen Einfluss, die Genossenschaft bestimmt den Handel. Aber ich glaube, dass es dafür dort keinen Markt gibt. Sogar die roten Spitzpaprikas, die Kapias, werden in den Niederlanden selbst erzeugt. In den Niederlanden können sie alles züchten.“
Kosdi sprach über die Kapia, weil er gerade Samen für die Spitzpaprika kaufen will. Das heißt, er hat ein „Speed-Date“ bei einer Tankstelle zwanzig Kilometer entfernt, damit er nicht ganz nach Budapest fahren muss. In der Hauptstadt gibt es eine Niederlassung von RijkZwaan, einem multinationalen Saatunternehmen, das ein holländischer Familienbetrieb geblieben ist. Dort befinden sich auch Büros der anderen großen holländischen Gemüsesaatbetriebe. Sie veredeln und verkaufen Saat weltweit.
Das große Geschäft mit der Saat
Nicht nur nahezu identische Paprikas wandern über den gesamten europäischen Kontinent, sondern auch der Paprikasamen reist kreuz und quer durch Europa – und den Rest der Welt. Das ist big business, jedoch unsichtbar für den Laien. Noch weniger bekannt ist, dass jeder der großen biochemischen Konzerne eine holländische Saatgröße verspeist hat. Kosdi weiß es genau: „Ich habe Saat von allen Großen. Und nicht nur ich. Man verwendet hier häufig niederländischen Samen, auch für typisch ungarische Paprikasorten.“
Gestern trug er noch ein T-Shirt mit Royal Sluis darauf. „Diese Saatfirma wurde von Seminis übernommen“, erklärt er, „und Seminis von Monsanto. Nunhems gehört inzwischen Bayer, auch De Ruiter Seeds ist jetzt Teil von Monsanto.“ Auf dem Weg zur Tankstelle zeigt Kosdi auf vereinzelte Baumgruppen – „da standen Bauernhöfe, bis die Kommunisten sie zerstört haben“ – und auf verstreute, kleine Schafherden: „Die Hirten haben alle Internet bei sich, und statt Hunde haben sie jetzt Elektrozäune.“ In der Ferne sieht man Bergland. „Das ist die Weinregion Tokaj.“ Und dort ist die kleine Tankstelle. Eine junge Frau übergibt Kosdi die bestellte Saat und wird für die Mühe mit Kartoffeln und Blumenkohl belohnt. „Das bisschen Saat kostet mich immerhin zweitausend Euro. Jedes Jahr wieder, aber dann hat man zuverlässiges und gesundes Zeug.“
Der Samen, den Kosdis ukrainische Mitarbeiterin bereits seit Tagen präzise in kleine Töpfchen mit Erde steckt, ist mal knallgelb, dann wieder giftblau mit Perlmuttglanz. Das sagt nichts über den Inhalt aus. Die Farbe ist ein kleiner Scherz beim Coating, der Schutzschicht gegen Krankheiten und Ungeziefer. „Der Pusztaboden besteht aus fruchtbarem Löss“, erzählt Kosdi. „Das ist schön, aber je natürlicher der Boden, umso mehr Feinde haben die Pflänzchen, vor allem in dem Becken, in dem wir hier sitzen. Deswegen ziehe ich jetzt auch Kapias auf Kokosmatten, als Experiment. Das ist Hydrokultur: Der Paprika steht auf Substrat statt auf Pusztaboden und bekommt seine Nahrung über kleine Schläuche. Die niederländische Gewächshauszucht kennt fast nichts anderes mehr. Der Vorteil ist der, dass man so nahezu biologisch züchten kann, ohne Chemie.“
Doch im Moment kann Kosdi nicht mit biologischen Mitteln arbeiten. Er hat eine Raupenplage auf den Kohlpflanzen – oder waren es Koloradokäfer, oder beide? Auf jeden Fall lassen die Biester sich nicht mit unschuldiger Ungeziefervernichtung vertreiben. Kosdi ist schwer beschäftigt, redet und redet und schüttelt dabei die Flasche mit Chemikalien des Multinationals Syngenta („hat auch eine niederländische Saatfirma geschluckt“). Dabei bekommt er so einiges von dem giftigen Zeug ab, das eigentlich für die Sprühvorrichtung hinter seinem Belarus-Traktor gedacht war. Er hatte nicht bemerkt, dass die Kappe schon ab war. Schnell greift er zu einem Wasserschlauch und richtet einen ordentlichen Strahl auf sich. „Ups, das ging daneben.“
Später am Tag erzählt Sandor Kosdi, weshalb er, anders als sein Vater und sein Bruder, keine Gurken anbauen will. „Es ist eine störanfällige, schwierige Zucht, die man viel besprühen muss. Ich habe schon mein ganzes junges Leben in den Gurkengewächshäusern verbracht, im Gift also. Heutzutage haben sie zwar weniger schädliche Alternativen, aber früher war das ganz schön heftig. Ich habe manchmal gedacht, dass der Krebs, an dem mein Vater gestorben ist, von dem Gift stammte, das er gegen den Koloradokäfer auf seine Gurken gespritzt hat.“
In einer Mail von Sandor Kosdi aus dem Jahr 2011 an die Autorin: „Weißt du, dass die van Spronsens, die Vorfahren meiner Mutter aus Loosduinen, um 1900 herum nach Manschnow, nicht weit von Berlin, umgezogen sind, um da den Gartenbau zu organisieren?“
Übersetzung: Gerd Busse
‘Klein-Holland’ im Oderbruch. Walter und Frank Schütz in Manschnow
Walter Schütz redet spöttisch, er hat diesen typischen, etwas wortkargen „DDR-Humor“, der schlechte Nachrichten ein wenig abmildert. Er erlebte hier im Brandenburger Dorf Manschnow einiges an Zerstörung, im Krieg und im Kommunismus – und dann, unerwartet heftig, nochmals im Kapitalismus. Schütz weiß bestimmt, dass die Zerstörung des Heizhauses durch dessen eigenen Schornstein kein Zufall war. Aber das sagt er nicht; es würde das Ganze noch unerträglicher machen.
Er weist auf ein typisches Glashaus niederländischen Stils hin, mit Spitzdach. Drinnen wächst es üppig. Sogar durch das Dach und die ehemaligen Wände des Gerippes dringt Grün. Die Glasfenster sind nicht mehr da, oder sie sind kaputt. Und Gemüse ist das Gewächs nicht gerade, es ist Unkraut. Eine Nebenwirkung der neuen Zeit, wie Schütz verärgert feststellt. „Auch zu DDR-Zeiten gab es hier und da noch Kleingärtnerei. Nach 1980, als viele LPGs zusammengelegt wurden und die Produktion noch stärker vereinheitlicht, riss man die meisten Glashäuser, die nach dem Krieg instandgesetzt worden waren, allerdings wieder ab. Aber selbst damals war die Landschaft weniger monoton als jetzt.“
Der energische Rentner ist knapp zu jung, um die größte Zerstörung in der Region bewusst erlebt zu haben. In den ersten Monaten des Jahres 1945 hat sich die Kriegsfront hier sieben Mal hin und her verschoben. Der schwache Trost bei aller Kriegsgewalt war, dass die schweren, langen Stellungskämpfe den Durchbruch der Sowjettruppen zur Befreiung von Berlin und somit das Ende des Zweiten Weltkriegs einleiteten. Aber so weit war es noch nicht, als hier unten im sumpfigen Oderbruch im April die Rote Armee stand, und oben auf die Höhen bei Seelow die Resttruppen der Nationalsozialisten warteten. Auch dann wurden Schornsteine gesprengt. Die größten Schornsteine der Gewächshäuser standen der Wehrmacht nicht so sehr im Weg, wie kürzlich noch bei dem geplanten Supermarket. Sondern sie hätten den Russen als Orientierungspunkte dienen können. Nachdem sich die Pulverdämpfe der größten Schlacht des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden verzogen hatten, lagen fünzigtausend tote Soldaten im Sumpfgebiet – die meisten von alliierter Seite, also Rotarmisten.
Laut Dorfchronik bekamen die wenigen männlichen Bewohner des Oderbruchs, die noch in den zerstörten Dörfern lebten, 1946 den Befehl der russischen Kommandantur, die Toten der Roten Armee aus der Umgebung nach Manschnow in Massengräber umzubetten. Noch immer gibt es ein Sowjetisches Ehrenmal. Die gefallenen deutschen Soldaten wurden nicht begraben. Bis heute werden ihre Knochen gefunden, insbesondere dann, wenn der Oderdeich erhöht wird.
Die Van Spronsens, oder „die Spronsen“, wie man sie hier, ohne das niederländische ‚van‘ und ohne s-Plural, nennt, haben ihre Schornsteine dann schnell wieder aufgebaut und ihre Glashäuser repariert. Sie konnten nicht wissen, dass kaum zehn Jahre später alles vorbei sein würde. Keiner ist geblieben. Und keiner von hier kann noch aus eigener Erfahrung über die Niederländer erzählen. Walter Schütz und sein Sohn Frank haben lange überlegt, ob es noch jemanden gibt.
„Zu DDR-Zeiten hat noch mal ein Spronsen hier kurz vorbeigeschaut“, sagt Walter Schütz. Das muss der van Spronsen-Sohn Sandor Kosdi gewesen sein. Kosdi hat 2013 in Ungarn erzählt, wie er als Student mit einer Freundin Urlaub in Polen machen wollte. Und Manschnow liegt nun mal genau an der Bundesstraße 1, die von der niederländischen zur polnischen Grenze führt. Mehr oder weniger zufällig war er dann in dem Dorf gelandet, dessen Name ihm schon zuvor ein Begriff war. Aber er hat damals nicht so richtig gewusst, was er dort anfangen sollte. Leider hat er wenig aus dem kurzen Aufenthalt gemacht, hat er in Ungarn gesagt.
Der Vater von Walter Schütz ist mehr oder weniger der einzige Anknüpfungspunkt an die niederländische Vergangenheit. Er lebt nicht mehr, aber er hat vor und nach dem Krieg in der Spronsen-Gärtnerei gearbeitet. Schütz zeigt ein Bild des jungen Vaters bei den Spronsen-Gewächshäusern. „Er hat in ihren Gurken und Tomaten gearbeitet, aber auch im Freilandgemüse wie Kohl – sie bauten alles Mögliche an.“
Walter war damals noch ein Kind. Und später war der Vater ziemlich wortkarg. „Vater hat bloß dies erzählt: ‚Wo Marinus van Spronsen nach Holland zurückgegangen ist, da ist er vorher die Feuerleiter des Schornsteins hinaufgeklettert und hat seine Mütze obendrauf gehängt.‘“ Das war um 1953. Es soll Marinus’ Protest gegen die Zwangskollektivierung des Familienunternehmens gewesen sein. Dazu war er die vollen 65 Meter hochgeklettert. Oder 43 Meter, oder 30; die Anekdote ist auch an anderer Stelle erwähnt, aber über die Höhe des Schornsteins sind sich die Quellen nicht einig.
Dieser Marinus ist wahrscheinlich aus der zweiten Generation van Spronsen in und um Manschnow, und die erste, die dort zur Welt kam, um 1910-1920. Die gleichen Namen kehren in der männlichen Familielinie immer zurück: Marinus, Willem, Henk, Kees/Cornelis… „Es waren die Gebrüder Spronsen, die mit dem Anbau von Tomaten und Gurken unter Glas hier überhaupt angefangen haben“, erzählt Schütz. Der Treibhaus- oder Glasgartenbau war eine Novität, die hatten die van Spronsens von der holländischen Küste mitgebracht. Er zeigt auf ein Häuschen am Rande der Ruine der Spronsen-Gärtnerei. „Hier wohnte der Mann, der noch nach dem Krieg die Treibhausgemüse der Spronsen nach Berlin gefahren hat.“
„Ein Holländer brachte das Treibhausgemüse hierher: Willem van Spronsen. Klein-Holland hat man seine Ländereien in Manschnow genannt.“ Das – und nicht viel mehr – meldet eine Online-Chronik über die Gärtnerfamilie auf der Website oderbruchpavillon.de. Dieser Willem aus der Pioniersgeneration muss der Willem sein, der Sandor Kosdis Urgroßvater ist. Beim Amt Golzow, ein paar Kilometer weiter, taucht 1906 „der eingewanderte Holländer Van Spronsen“ auf. Ein Bruder? Oder Willem selbst? Dieser beginnt Gemüseanbau im benachbarten Gorgast‚ so heißt es, „der alsbald auch nach Golzow übergriff“. Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, noch vor 1910, sind die Brüder hierher gekommen. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg belief sich die Zahl der Gärtnereien auf schätzungsweise fünfzig, teils in van Spronsen-Besitz. Allein in Manschnow gab es damals schon über zwanzig, das ist belegt.
„Es wächst alles gut hier, im Oderbruch“, sagt Walter Schütz. „Das Klima ist dem in Holland ähnlich. Das haben die Holländer bemerkt. Deswegen sind sie hergekommen und haben hier investiert.“ Das Oderbruch ist ein etwa fünfzehn Kilometer breiter und fünfzig Kilometer langer Streifen entlang der Oder, er fängt etwa fünfzig Kilometer östlich von Berlin an. Schütz selbst war Meister-Beregner in der benachbarten Gorgaster LPG, zwei Kilometer von Manschnow entfernt. „Auf dem ehemaligen Spronsen-Gelände habe ich die Gurken gemacht, und bin dann zur Beregnung gekommen. Ich durfte keinen Ingenieur machen. Dazu fehlten mir die gewissen Verbindungen – politische, wohlverstanden.“
Die Landwirtschaft im Oderbruch haben die Niederländer zwar nicht erfunden. Aber sie standen sozusagen an ihrer Wiege, vor gut 250 Jahren. Preußenkönig Friedrich der Große verfolgte eine Politik der „Melioration“, der Verbesserung des Landes durch Trockenlegung. Mit der Einpolderung des Oderbruchs beauftragte der König den eingepreußten Holländer-Sohn Simon von/van Haerlem, einen Wasserbauingenieur. Dieser lenkte die Oder um, grub Kanäle und Gräben, entwässerte, baute Deiche und pflanzte Bäume zur deren Befestigung.
Friedrich der Große soll beim Ergebnis begeistert verkündet haben: „Hier habe ich im Frieden eine neue Provinz erobert, ohne einen Mann zu verlieren!“ Niederländische Kolonisten gehörten zu den ersten, die sich im neuen, aber irgendwie vertrauten, fruchtbaren Sumpf (Bruch) niederließen. In kürzester Zeit entstanden fünfzig Dörfer. Auf der polnischen Seite des Bruchs jenseits der Oder, an der Warthe, die in die Oder mündet und ebenfalls Teil des großen Meliorationsprojekts war, gibt es noch Dörfer, die bis 1945 „Woxholländer“ und „Sumatra“ hießen – letzteres ein Hinweis auf eine offiziellere Kolonie der Niederlande.
Das Oderbruch wurde zunächst zur Kornkammer und etwa vor hundert Jahren dann zum Gemüsegarten Berlins. Es ernährte die Reichshauptstadt. Und ab 1949 ernährte es Berlin, Hauptstadt der neuen Deutschen Demokratischen Republik. 1950 wurden laut DDR-Statistik täglich fünfzig Tonnen Gemüse nach Berlin geliefert. Auch West-Berlin aß damals noch mit. Freilich ging es, mehr als vor dem Krieg, um eher einseitige Kost, bevorzugt Kohl, weil der die meisten Kilos bringt. „Die Bevölkerung wurde optimal versorgt nach Kilo“: so fasst die Website Oderbruchpavillon.de den landwirtschaftlichen Plansozialismus zusammen.
Alle van Spronsens waren Ende der fünfziger Jahre weg. Sandor Kosdi hat von einem Herman(n) van Spronsen gehört, der als Einziger in Deutschland blieb – allerdings in der Bundesrepublik, an der Grenze zur niederländischen Provinz Groningen. Dort im Landkreis Leer hat er mit dem Gartenbau weitergemacht. 1999 starb er, aber die Gärtnerei existiert noch. Die anderen van Spronsens gingen in die niederländische… – nein, ‚Heimat‘ war Holland für sie bestimmt nicht mehr. Sie waren fast alle im Oderbruch geboren. Onkel Piet van Spronsen war sogar für die deutsche Heimat im Krieg gefallen, irgendwo auf russischer Erde.
Manschnow lag im sowjetischen Sektor des besiegten Deutschlands. Aber das, was übrig war vom Küstriner Krankenhaus, stand jetzt in der polnischen Volksrepublik. Dort war 1938, also noch im Deutschen Reich, Helga van Spronsen geboren. Die Oder war nach dem Krieg Staatsgrenze geworden. Auf den Ruinen der zerstörten historischen Festung Küstrin, hoch auf dem polnischen Ufer, flatterten die roten Fahnen. Einst war hier der Kronprinz Friedrich von seinem Vater gefangengesetzt worden, um ihn zu disziplinieren. Der spätere Große Preussenkönig hatte somit Zeit genug, um von der Trockenlegung des unter ihm gelegenen Bruchs zu träumen.
Mit Vater Henk und Mutter Irmgard, eine Deutsche aus der Gegend, gehörte die kleine Helga van Spronsen 1946 zu den ersten in der Großfamilie, die den Zerstörungen und dem politischen Umbruch entflohen. „Die jüngeren Spronsen gingen kurz nach dem Krieg schon in die Niederlande“, erinnert Walter Schütz sich. „Die anderen machten zunächst weiter. Die Zwangskollektivierung in Genossenschaften fing ja auf freiwilligen Basis an, nichtwahr?“ Er guckt schelmisch. „Als Ausländer standen die Spronsen einerseits unter noch höherem politischem Druck, sich zu arrangieren, als die anderen. Anderseits waren sie etwas weniger angreifbar – sie konnten ja leichter weg. Wie auch immer, bis 1953 durften sie noch weitermachen. Dann war Schluss.“
Und das ist wohl der Augenblick gewesen, als Marinus seine Mütze an den Blitzableiter auf dem Schornstein gehängt hat. Er wollte nicht in die GPG, Gärtnerische Produktionsgenossenschaft, und schon gar nicht in eine noch umfangreichere LPG. „Kaum waren die letzten Spronsen aus Manschnow weg“, erzählt Schütz, „und ihre Gärtnerei kam zur LPG Pascha Angelina, benannt nach der ersten sowjetischen Traktoristin. Und dann wurde alles anders.“
Laut Chroniken war die Pascha Angelina eine LPG „Typ 1, mit 6 Mitgliedern und 49 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche“. Schütz erläutert: „Nicht alle hier sehen das so, aber das war eine Katastrophe. Auf einen Schlag sind hier zwanzig selbständige Gemüse-, Obst- und Blumen-Betriebe aufgelöst worden, die alle auf etwas spezialisiert waren. Alles plattgemacht. Noch immer hat sich das Oderbruch nicht davon erholt.“
Tatsächlich sehen nicht alle das so. Ein Online-Chroniqueur beschreibt begeistert, wie „mit der demokratischen Bodenreform“ tausende Hektar Land enteignet und unter „landarme“ Leute aufgeteilt wurden. Diese Maßnahmen betrafen Golzow und Gorgast, wo es auch Spronsen-Gärtnereien gab, ebenso wie Manschnow. 1963 hatte die Manschnower LPG schon 136 Mitglieder und 64 Hektar, sie wuchs und wuchs. „Fast alles wurde Freilandgemüse, also draußen. Die Russen brauchten nur unsortierte Tomaten, für die Soßen, sowie Knoblauch und Gurken – Hauptsache viel.“
Das ging alles in einen Topf oder in die Gulaschkanone; da kommt es nicht auf verfeinerte Tomaten an. „Aber um 1970 hat man den Glashäusern noch einmal ein neues Leben vergönnt“, verfolgt Schütz. „Da hat man Nelken für Polen gezüchtet. Das hat nicht lange gedauert, da war die Grenze wieder zu. Nur offizielle Delegationen durften noch rüber.“ Danach wurden die meisten Gewächshäuser abgebrochen, und die anderen vegetierten vor sich hin.
Ab 1945 lag Manschnow, wie gesagt, nicht mehr irgendwo in Deutschland, sondern ein paar Kilometer von der Oder-Neiße-Grenze entfernt. Und wo die alte Reichsstraße 1 noch nach Königsberg und weiter geführt hatte, strandete die Bundesstraße 1 nach Kriegsende an der Oder im „Küstriner Vorland“. Erst seit 1992 ist dieser Grenzübergang mit Polen wieder offen.
In ihrem letzten Abschnitt vor der Grenze heißt die Bundesstraße 1 die Straße der Freundschaft – noch immer. Die Freundschaft mit dem polnischen Brudervolk, die hier gemeint ist, hat im Sozialismus allerdings nie wirklich funktioniert, so Walter Schütz. Die wechselseitigen Vorurteile an der Grenze waren im Kommunismus vorprogrammiert gewesen. „Man hat aus Polen mal Einsätze zur Tomatenernte bekommen, wenn nicht genug Studenten der Berliner Humboldt-Uni zur Verfügung standen. Aber viel mehr war nicht.“
Die meisten der Oder-Brücken waren zerstört, blieben zerstört, und sind es auch heute noch. Die wenigen funktionierenden „Freundschaftsbrücken“ waren ab 1980 meist ständig für die Ostdeutschen gesperrt. Im Tauwetter der Siebziger Jahre waren sie nämlich gern rübergegangen, um sich in Polen Westfilme anzuschauen. Aber dann seien die Polen, mit ihrer Gewerkschaft Solidarnosc, der DDR-Führung viel zu eigensinnig geworden. Die Parteileidung fürchtete Ansteckung ihrer Arbeiter und Bauern, und diese fürchteten den Leerkauf ihrer Läden, falls die Polen über die Oder kämen. Denn in der polnischen Volksrepublik der Achtziger Jahre herrschte Mangel an allem.
Nach der Wende bangten viele DDR-Bürger, die ab Ende 1990 Bundesbürger waren, um ihre Stellen. Die dann ohnehin wegfielen; allerdings nicht durch das Zutun der Polen. Hier im Oderbruch wurde es immer stiller und leerer, wohingegen „drüben“ im wieder freien Polen der Handel florierte. Viele Polen gründeten ihre eigenen kleinen Unternehmen, weil man vom Staat wenig erwartete. Sie boten den Brandenburgern, die auf neue Arbeit warteten, alle möglichen Waren und Dienstleistungen billig an.
„Das mit den Kontakten über die Grenze“, fügt Sohn Frank hinzu, der sich aus seinem Gartencenter losgeeist hat, „also, echte Kontakte mit den Polen, daraus ist nix geworden. Obwohl es viele Versuche gab, von Bürgerinitiativen bis hin zu EU-Vorzeigeprojekten. Man müsste, denk ich mal, Rheinländer hierher an die Oder-Neiße-Grenze holen, um grenzüberschreitend Party zu machen.“
Frank Schütz (1970) hat kurz nach dem Mauerfall in Manschnow ein Blumengeschäft aufgemacht. „Ich war in der Schule nicht derjenige, der der ‚Linie‘ gefolgt ist, sondern dem eigenen Kopf. Ich habe mich den Zwangsmitgliedschaften verweigert, wie diese Deutsch-Sowjetische Freundschaft, die Freie Deutsche Jugend, und so weiter. Also, Abitur, Studieren, Feinmechaniker: Das alles ging nicht. Nach der Wende habe ich dann sofort in Berlin eine kaufmännische Ausbildung nachgeholt, und dann den Blumenladen hier eröffnet.“
Nicht alle seine Mitbürger waren so initiativreich, sagt er. „Es gab Anfang der Neunziger diese Runder-Tisch-Stimmung: ‚Uns geht’s jetzt gut‘. Etwas unternehmen? Aber wozu? Es hat diesen Gedanken einfach nicht gegeben. Der Brandenburger Ministerpräsident, Manfred Stolpe, hat nämlich immer wieder neue Fabriken versprochen – die dann nicht gekommen sind.“ Stolpe wurde nachher noch Bundesminister für die SPD, obwohl ostdeutsche Bürgerrechtler längst festgestellt hatten, dass er als „IM Sekretär“ Informant des Staatssicherheitsdienstes gewesen war.
Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs wurde über die Vergangenheit meist geschwiegen. Die Gegenwart, mit ihren vielen Forderungen und Widersprüchen, war schon anspruchsvoll genug. Gelähmt und ohne Kapital, so standen viele Brandenburger da. Die Euphorie über den Mauerfall war schnell dahin. Das Agrarland wurde durch dieTreuhandanstalt privatisiert, auch die ehemaligen Spronsen-Ländereien. „Aus einem neuen Leben für die Gärtnereien ist nach der Wende wenig geworden“, erzählt Frank Schütz. „Die LPGs wurden nicht richtig abgewickelt, mit den Privatisierungen ging viel schief. Man wurde übernommen, war leichtes Futter nicht nur für Westdeutsche. Zum Beispiel waren auch einige niederländische Unternehmer wieder schnell dabei.“
Manche im Oderbruch meckern über die holländischen Landwirte, die die Gelegenheit ergriffen und eine Agrargenossenschaft mitgegründet hatten. Andere sagen, sei doch froh, dass sie hierher kommen und wenigstens ein paar Arbeitsplätze schaffen, wenn von uns hier keiner das Risiko auf sich nehmen will oder kann. Frank Schütz betreibt jetzt, mit Unterstützung der Familie, sein Gartencenter in Manschnow. „Gartencenter“, das klingt anders als „Gärtnerei“. „Ich produziere tatsächlich nicht selbst“, erklärt er. „Na ja, ein paar Blumen und Tomaten aus Vaters Hobbygarten verkaufe ich mit, und einen Weihnachtsbaum kann man sich bei uns im Garten aussuchen. Aber das ist keine Produktion in wirtschaftlichem Sinne.“
Die Familie Schütz hätte nichts dagegen gehabt, in Manschnow eine Gärtnerei nach alter Tradition zu gründen. Frank Schütz: „Die große Frage nach der Wende war für uns: Schaffen wir es, die Produktion von null an aufzubauen? Nein, dafür war die gigantische Investition, die man hätte tragen müssen, einfach nicht aufzubringen.“ „Die Kredite hätten wir gar nicht gekriegt“, fügt Vater Walter hinzu. Frank: „Das Risiko wäre viel zu groß gewesen.“
Das Risiko ist hier seit jeher auch mit dem Wasser verbunden. Bis zur Wende hat Walter Schütz die Beregnung seiner LPG geleitet. „Dann hieß es: Beregnung brauchen wir nicht mehr“, erklärt er mit zynischem Unterton. „Ab jetzt wächst alles von alleine. Wir hatten zum Beispiel ganz lange Rohrleitungen. In einer Nacht- und Nebelaktion gleich nach der Wende waren sie verschwunden. Alles wurde ‚entsorgt‘, was sich irgendwie zu Geld machen ließ. Hier war rechtsfreier Raum.“
Beregnen – Das mag komisch klingen, im sumpfigen „Polder“. Aber das Oderbruch ist eine launische Landschaft. Große Teile liegen unterhalb des Wasserspiegels der Oder – wie in Holland. Aber anders als dort gibt es hier ein erhebliches Landschaftsrelief. Oftmals ist es gleichzeitig zu trocken und zu nass, nur an verschiedenen Stellen. Statt blühender Landschaften kam das Wasser. Es kam immer wieder, bisweilen regelrechtes Hochwasser.
„Es ist hier eine Badewanne, wenn man nichts macht“, erklärt Walter Schütz. „Wir waren ja einiges gewöhnt, da kauft man eine Badehose. Ich meine, vor der Wende war es auch nicht ideal. Die alten Mühlwerke, die das Wasser mahlten, waren alle schon zu DDR-Zeiten geschlossen. Aber jetzt gibt’s diese Probleme ständig. Der Boden kann sich nicht erholen. Ich hatte von der Spronsen-Gärtnerei bis hier bei uns zweihundert Meter Graben – tiefen Graben. Jetzt wächst Schilf, der Graben ist fast zu. Man sieht die vielen Graben kaum noch.“
Hier klingt Walter Schütz zum ersten Mal richtig verärgert. Frank und er heben bisweilen Stücke Graben aus. Das ist schwere Arbeit, dazu ziemlich sinnlos: „Am Oder-Neiße-Radweg drüben hat man zwar eine Entwässerung gemacht, aber dieses Wasser wird in den erstbesten Graben weggepumpt. Sehr unvernünftig.“
Dazu kommt der großflächige Maisanbau für Biogas, der den Boden verdichtet, so dass das Wasser kaum abfließen kann. Also, von einer „Naturkatastrophe“ kann man bei diesen Überschwemmungen wirklich nicht sprechen, kommentiert Walter Schütz. „Man sollte den ganzen Wasserhaushalt wiederherstellen. Aber das ist nicht mit zwei Millionen getan. Und die Grünen sind dagegen. Die wollen das Oderbruch der Natur lassen. Absaufen lassen, also.“
Das Wasser spaltet die Gemüter. Die auf der Hand liegende Lösung, der Oder wieder mehr Raum zu geben, ist für die Bewohner des Bruchs ein heikles Thema. Mit Angst und Bange schaut man richting Holland, wo man in den letzten Jahren Teile des gewonnenen Landes dem Meer und Flüssen zurückgegeben hat, „der Wildnis überlassen“, wie man hier sagt.
Dass der Chef des Landwirtschaftsriesen Odega auf die Idee „Vogelparadies“ schimpft, erstaunt nicht. Aber wenn man nichts tut, entsteht ein solches Paradies von alleine. Das Oderbruch ist in dieser Saison von Herbst bis Frühling ständig von Hochwasser geplagt worden. Schaden auf 30.000 Hektar, schätzen die Unternehmer. Dennoch bauen sie stets mehr bodenzerstörenden „Silomais“ an, statt zum Beispiel Weizen für menschlichen Konsum.
In ihren Alpträumen sehen die Bewohner des Oderbruchs sich vom Wasser eingeschlossen. Wo vor einem Jahrhundert die Tomaten erstmals in trockenen Treibhäusern wuchsen, und vor fünfzig Jahr die Massengemüseproduktion im Freiland, wird dann nichts mehr sein, sogar manche Dörfer nicht. Einige Monate zuvor, im März 2012, haben in Manschnow auf der Straße der Freundschaft viele für den Erhalt der „Kulturlandschaft Oderbruch“ demonstriert. Sie sollten sich nicht zu große Sorgen machen. Der Boden ist mittlerweile viel zu teuer geworden, um ihn der Natur preiszugeben. Im Notfall hole man sich zur Melioration des Wasserhaushalts wieder die Hilfe holländischer Ingenieure.
Textredaktion: Ute Schürings
Daheim an der Nordseeküste. Helga Kosdi-van Spronsen und ihre Odyssee
„Wir? Ach nein. Wir haben in Manschnow nie in einer Villa gewohnt. Hör mal, dafür waren wir viel zu arm.“ Helga Kosdi-van Spronsen hat sich die Fotos einer verfallenen Villa in Manschnow angesehen. Walter Schütz, Sohn eines Gärtners, der in diesem Dorf noch für die van Spronsens gearbeitet hat, wusste, dass das betreffende Gebäude dem holländischen Gärtnergeschlecht gehört hatte, dem Helga entsprossen ist. Doch sie hatten im deutschen Oderbruch zwischen ungefähr 1905 und 1955 eine ziemlich große Familie gebildet. „Ich glaube, dass der Bruder meines Vaters, der im Krieg gefallen ist, da gewohnt hat“, erzählt Helga Kosdi-van Spronsen in ihrem Haus in der Randstad, dem großstädtischen Ballungsraum im Westen der Niederlande. Es muss Piet gewesen sein, der für die Deutschen gekämpft hat und vermutlich selbst Deutscher war und in russischer Erde zurückblieb. „Daran, wo wir selbst gewohnt haben, kann ich mich nicht erinnern. Jedenfalls nicht in einer vornehmen Gegend. Mein Vater war mit einem Bauernmädel aus Manschnow verheiratet.“
Helga ist die Enkelin Willem van Spronsens, einem der legendären Brüder, die dem Gartenbau im Oderbruch ein neues, gläsernes Leben eingehaucht haben. „Mein Opa Willem war um 1900 Gurkenzüchter in Loosduinen. Sein Opa war, glaube ich, auch schon Gärtner. Sie sind um 1905 herum bewusst aus dem Westland Richtung Berlin emigriert. Denn diese Stadt wäre ein schöner Absatzmarkt, haben sie sich gedacht, dagegen war Den Haag nichts!“
Über die Loosduinse Vaart brachten die Gärtner aus dem Westland seinerzeit ihr Gemüse ins Zentrum von Den Haag. Von diesem Kanal ist fast nichts mehr übrig, ebenso wenig, wie von dem alten Dorf Loosduinen. Das Westland ist inzwischen fest an Den Haag angebunden. Aus der Gläsernen Stadt ist ein Asphaltierter Gläserner Greenport geworden, der sich bis Rotterdam erstreckt.
Wegbereiter Willem van Spronsen war mit den neuesten Gartenbautechniken in der Westentasche in den Oderbruch gezogen. In den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts hatte er sich mit anderen jungen, ehrgeizigen Gärtnern aus den Niederlanden und Flandern in England von den Neuerungen auf seinem Fachgebiet inspirieren lassen. Die Briten hatten ein Verfahren entwickelt, um verhältnismäßig preiswert große, stabile Glasplatten zu fabrizieren. Sie experimentierten dort sogar bereits mit dampfbeheizten Gewächshäusern aus Glas für Tomaten, Gurken und Trauben.
So kam Helga van Spronsen im Oderbruch zur Welt, als dieser so holländisch anmutende Polder bereits längst zum Gemüsegarten Berlins geworden war. Das war 1938, im Regionalkrankenhaus in Küstrin, „das jetzt zu Polen gehört“, wie sie mit Erstaunen bemerkt. 1946 ist sie mit ihrem Vater Henk van Spronsen und ihrer Mutter Irmgard, geborene Tornow, in die Niederlande geflüchtet. „Ich habe nicht viele Erinnerungen an diese Zeit“, sagt sie. „Aber den riesigen, hohen Schornstein unserer Gärtnerei, den sehe ich noch immer vor mir.“
Sie weiß auch noch, wie ihre Eltern alles vorbereiteten, um jeden Moment weg zu können. Das muss schon im Frühjahr 1945 gewesen sein. „Ich erinnere mich, dass wir, für den Fall, dass die Russen schießen würden, eine Matratze an die Wand gestellt hatten.“ Doch man ging nicht einfach so weg. „Was da bei uns in Manschnow nicht alles wuchs: Gurken, Kohl, Tomaten und noch vieles mehr – wirklich alles.“ Nein, sagt sie, von ihrem Land hätten sie nach dem Fall der Mauer keinen Cent zurückbekommen. Doch die Familie hat sich, soweit sie weiß, auch nicht wirklich darum bemüht. Sie selbst ganz bestimmt nicht. Dafür ist ihr weiteres Leben viel zu turbulent verlaufen, wobei sie auch noch ein paar Grenzen überwinden musste.
Der Krieg hatte aus dem Oderbruch eine verwüstete Landschaft gemacht. Manschnow, an der Reichsstraße 1 gelegen, befand sich Ende März 1945 an der direkten Route der Roten Armee nach Berlin. Nach der Befreiung war die Zukunft außerordentlich unsicher in dieser von der Sowjetarmee besetzten Zone Deutschlands. Die jüngere Generation der van Spronsens, einschließlich Helgas Eltern, waren die Ersten in der Familie, die den Sprung über die Grenze wagten. Die Niederlande waren ein völlig neues Gebiet für sie, nicht nur für die kleine Helga und ihre deutsche Mutter. Auch Vater Henk, Jahrgang 1907, hatte sein Leben bis dahin im Deutschen Reich verbracht, das nun untergegangen war.
Ob es wirklich eine „Flucht“ war, ist nicht ganz deutlich. Sie konnten weg – vermutlich hatte Henk van Spronsen noch einen niederländischen Pass. Ursula, Helgas jüngere Cousine, sieht noch Fetzen von Bildern des beginnenden Frühjahrs 1945 vor sich – sie war damals vier. Ursula ist die Tochter von Kees (Cornelis), des Bruders von Helgas Vater. Es sind Blitzlichter voller Bedrohung und Gewalt. Eines der beiden Pferde und der Hund wurden abgeschlachtet, erzählt sie in Amsterdam. Mit dem Wagen, gezogen von dem zweiten Pferd, ging es eilends Richtung Niederlande, und Ursula saß, zu ihrer eigenen Sicherheit, festgebunden auf dem Wagen.
Ursulas Vater sollte viele Nachkriegsjahre lang als Lohnarbeiter Kartoffeln roden. Auch Helgas Vater fand in Holland keinen herzlichen Empfang. „Wir hatten natürlich noch Verwandtschaft im Westland, im Gartenbau“, erzählt Helga Kosdi-van Spronsen, „aber auch da herrschte so kurz nach dem Krieg äußerste Armut. Ein Jahr später, 1947, waren wir schon in Brasilien.“
In ganz Mitteleuropa war das Ende des Zweiten Weltkriegs der Beginn einer Zeit der Flucht und Vertreibung. Die damals noch vereinten alliierten Mächte aus Ost und West verschlossen ihre Augen vor ethnischer Gewalt, insbesondere, wenn sie sich gegen Minderheiten der besiegten Staaten (Deutsche, Ungarn, usw.) richtete. Die Alliierten glaubten, dass ethnisch homogene Staaten die beste Garantie für eine friedliche europäische Zukunft bildeten.
So wurde Gergely Kosdi schließlich in die Arme von Helga van Spronsen getrieben. Beide waren mehrfach heimatlos geworden. Und für beide stellten die Niederlande der Nachkriegsjahre das Gelobte Land dar. Die Niederlande bedeuteten Freiheit – wenn auch für Gergely auf andere Weise als für Helga, wie sich gleich noch zeigen wird. Wäre der achtjährige Gergely Kosdi nicht 1945 mit seinen Eltern aus der Tschechoslowakei nach Ungarn vertrieben worden, und wäre er nicht 1956 in die Niederlande geflüchtet, gäbe es heute keinen Sohn Sandor Kosdi, der in Ungarn Paprikas züchtet.
Die ungarischen Kosdis wohnten in Komárom an der Donau. Das lag bis 1918 im Herzen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, zwischen Pressburg und Budapest. Doch nach dem Ersten Weltkrieg entstand die Tschechoslowakische Republik. Die alte ungarische Krönungsstadt Pressburg/Pozsony wurde in das slawischer klingende Bratislava umgetauft, und die neue Staatsgrenze zog sich teilweise entlang der Donau. Leider lief diese Staatsgrenze genau durch Komárom. Plötzlich gab es zwei Stadtteile: nördlich der Donau das tschechoslowakische Komárno, und am südlichen Flussufer das ungarische Komárom. Im Zweiten Weltkrieg gelang es Ungarn, die ganze Stadt wieder in seine Gewalt zu bringen, doch 1945 wurde die Vorkriegssituation wiederhergestellt.
Sandor Kosdi wies darauf hin, dass nicht weit von Komárno in der heutigen Slowakei ein Dorf liegt, dass Kosd heißt. Doch die Tatsache, dass sie aus der Region stammten, half seinen Großeltern und dem Vater 1945 keineswegs. Sie wurden, als politisch widerspenstige Ungarn, zusammen mit vielen Schicksalsgenossen aus Komárno nach Ungarn vertrieben. Sie durften jedoch nicht auf der anderen Seite der Brücke, in Komárom, wohnen. Als subversive Elemente mussten sie sich in Südungarn niederlassen. Dort war es leer, weil die meisten ethnischen Deutsch-Ungarn, die dort bereits seit ein paar Jahrhunderten zu Hause waren, ihrerseits aus ihrem Land vertrieben wurden.
Beide Volksrepubliken, die ungarische und die tschechoslowakische, lagen an der unfreien Ostseite des neu entstandenen „Eisernen Vorhangs“. Die Brücke über die Donau zwischen Komárom und Komárno hieß „Brücke der Freundschaft“. Doch sie war die meiste Zeit ebenso unpassierbar wie die gleichnamigen Brücken über die Oder und die Neiße zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. Im Jahr 1956 hegte der neunzehnjährige Gergely Kosdi noch wenig Sehnsucht nach seiner Geburtsstadt, die zu beiden Seiten der Donau diktatorisch regiert wurde. Im Herbst jenes Jahres wurde der große ungarische Volksaufstand gegen das kommunistische Regime niedergeschlagen. Kosdi gelang es, über Österreich in die Niederlande zu gelangen. Er hatte eine Wochenschau gesehen, die ein nahezu futuristisches Bild des niederländischen Gartenbaus vermittelte. Hier lag seine Zukunft! So fand Gergely Kosdi seinen Weg in die Gläserne Stadt. Er landete in Loosduinen und arbeitete schon bald in den Gurkengewächshäusern.
Helga van Spronsen sind die heißesten Jahre des Kalten Kriegs entgangen. 1956 lebte sie noch in Brasilien und kämpfte mit ganz anderen Problemen. Sie hatte ihre Mutter nicht umsonst – und bewusst unfreundlich – als „Bauernmädel“ bezeichnet. Sie habe, sagt sie, „keine Träne vergossen, als sie starb.“ Ihre Mutter ist vor kurzem, 2013, gestorben. Ihr Vater, Henk, starb bereits 1977. Helgas negative Gefühle haben vor allem mit Brasilien zu tun, erklärt sie. „Wir wohnten in einem Dorf. Meine Mutter ging zum Arbeiten in die Stadt, und wir sahen sie nur am Wochenende. Wir, das waren Helga und ihre Schwestern. „Mutter war hart, Vater war hart – ich wollte dort so schnell wie möglich weg.“
Vater Henks Härte sei auch den bitteren Lebensbedingungen geschuldet gewesen, relativiert sie. Die neue Unfreiheit muss für den selbständigen Gärtner aus dem Oderbruch ein schweres Los gewesen sein. „In Brasilien hat er als Landarbeiter auf Bauernhöfen gearbeitet, wurde ausgebeutet. Wir sind in dem Land sicher fünfzehn Mal umgezogen. Vater hat zwar noch das eine oder andere selbst angebaut, aber er hatte kein Geld zum Investieren, daraus wurde also nicht viel. Nun ja, wir Töchter haben schon in jungen Jahren gearbeitet. Das ganze Geld musste bei den Eltern abgegeben werden, so ging das. Als Vater in einem Schlachthof anfing zu arbeiten, konnten wir Geld für die Überfahrt in die Niederlande sparen.“
So geschah es. Helga kam nach ihrer Umsiedlung in die Niederlande Anfang der sechziger Jahre bei einer Tante in Den Haag unter und fand Arbeit in einem chinesisch-indonesischen Geschäft in der frivolen Hager Passage. „Die Stelle hatte ich meinen Sprachkenntnissen zu verdanken. Es kamen viele Ausländer in den Laden. Ich sprach natürlich fließend Portugiesisch, und ansonsten hatte ich mit meinem Vater Niederländisch und mit meiner Mutter Deutsch gesprochen.“
Unterdessen fühlte sie sich „schon ein bisschen über der Zeit“. „Ich war schon fast fünfundzwanzig, als ich in die Niederlande zurückkam.“ Zum Glück ging man samstags tanzen. „Ich weiß es noch genau: Ich saß in der Ecke, und Kosdi bat mich zum Tanz.“ Gergely Kosdi, Loosduiner Gurkenzüchter im Lohndienst, gelang es, eine Saite zum Schwingen zu bringen. „Ich sprach also ein bisschen schlechtes Niederländisch und Deutsch, und da stand dieser Mann, der auch allerlei Sprachen ein bisschen sprach. Das schafft ein Band.“
Helga Kosdi-van Spronsen – ihr letztendlicher Name verrät drei Nationalitäten. Gergely Kosdi, dessen Name in Loosduinen zu „Sjors Kosdi“ eingeholländischt wurde, war wiederum „kein typischer Ungar“, erzählt sie. „Ach, er war ein schöner Mann. Groß, ein wenig blond, mit blauen Augen. Er wird wohl slawisches Blut in sich haben, seine Vorfahren kommen schließlich aus der Gegend, die jetzt in der Slowakei liegt.“
Es ist, als würde sie ihren ältesten Sohn Sandor beschreiben. „Sandor hat vor allem auch die Art, Sachen anzugehen, von seinem Vater geerbt: das Fortschrittliche, die Unternehmungslust. Mein Mann hat mit seinen Gurken drauflos experimentiert.“ Sie heirateten 1965, und schon bald war Sandor da. Er trägt also Spuren von Krieg und Vertreibung im Blut, vom Kommunismus und von der Freiheit, von Ungarn, Berlins Gemüsegarten im Oderbruch und der Gläsernen Stadt im Westland, ganz abgesehen von einer Spur Brasilien. Bei Sandor Kosdi fließt das wiedervereinte Europa durch die Adern. Doch tatsächlich hält er sich für keine Ost-West-Erfolgsgeschichte, wenn er in der ungarischen Puszta steht und sich quält.
Sandor Kosdis Vater Gergely wusste zunächst gar nicht, dass Helga aus einer Gärtnerfamilie stammte. Er selbst hatte in Ungarn zwar in der Landwirtschaft gearbeitet, jedoch nie etwas mit Paprikas oder anderen Gartenbauprodukten zu tun gehabt. Nun war er bei den Gurken gelandet und machte sich nach ihrer Hochzeit als Gurkenerzeuger selbständig.
Die Kosdis hätten die Paprikapioniere der Niederlande werden können. „Paprikas?“ Nein, darüber hätten sie damals nicht nachgedacht, sagt Helga Kosdi-van Spronsen. „Die gab es zu der Zeit in den Niederlanden noch überhaupt nicht. Genauso wenig wie im Manschnow meiner Kindheit.“ Aber gerade deswegen! Als Helga und Sjors ein Paar geworden waren, wurden im Westland zögerlich die ersten Paprikas gezüchtet. Die Umstellung auf Paprika war eine Notlösung, inspiriert durch holländischen Handelsgeist. Der Markt wurde damals in den sechziger Jahren nämlich mit preiswerten Trauben aus Südeuropa überschwemmt. Die Traubenproduzenten aus dem Westland suchten eine andere Verwendung für ihre Glasgewächshäuser. Das wurden die Tomate und die Paprika.
Beide wurden hauptsächlich für den Export angebaut. Die Tomate nahm man jedoch auch in der Region gern ab. Doch die Paprika? Die holländische Hausfrau hatte keine Ahnung, was sie damit machen sollte. Sie kaufte sie in kleinen Mengen und kochte sie dann aus, vorzugsweise als Suppengemüse. Eigentlich wussten in dieser Paprika-Pionierzeit in den Niederlanden lediglich die chinesisch-indonesischen Restaurants leckere Dinge aus den damals vor allem grünen Paprikas zu machen. Der niederländische Paprikahandel hat 2014 ein historisches Kochbuch herausgegeben, mit dem Titel: 50 jaar paprika („50 Jahre Paprika“). Darin lässt sich nachlesen, dass sich die holländische Vorliebe auf „ein Exemplar, das man hinstellen konnte“, richtete. Stellte man die „Blockpaprika“ etwa zur Dekoration auf den Schrank, so wie einst auch die Ungarn auf ihre Zierpaprikapflanze gestarrt haben, als sie noch nicht gelernt hatten, dass man sie auch essen konnte?
Die Essgewohnheiten der paar tausend ungarischen Flüchtlinge, die gleichzeitig mit Gergely Kosdi 1956 ins Land gekommen waren, drangen noch nicht bis zu den einheimischen Niederländern durch. Es waren schließlich die türkischen Gastarbeiter, die den Paprikakonsum in den Niederlanden angefacht haben. Es ist aufschlussreich, dass Sandor Kosdi in seinen ersten ungarischen Gärtnerjahren Ende des letzten Jahrhunderts seine sonnengereiften Paprikas (unter Folie oder Vliestuch) in die Niederlande zu exportieren versuchte. Der Transport musste schnell vor sich gehen, denn Spitzpaprikas werden binnen einer Woche welk. Also organisierte Kosdi den gesamten Export selbst, von der Verpackung bis hin zum Verkauf. Er hätte dabei fast Verlust gemacht, erzählte er, und es wäre sogar ein ziemlicher Verlust, wenn er all die investierte Zeit mitrechnen würde. Denn es zeigte sich, dass Kosdis Paprikas, eine frühe Sorte, gerade reif waren, als die potentiellen türkischen Abnehmer massenhaft in den Urlaub in die Türkei fuhren. Er blieb in Holland auf seiner Ware sitzen, in Deutschland erging es ihm nicht anders.
Daraufhin fuhr Sandor Kosdi mit seinen Paprikas eben eine Weile an die rumänische Grenze, wo ebenfalls genug Paprikakenner leben. Mutter Helga, auf Besuch bei Sandor in Ungarn, fuhr einmal mit ihm mit. Sie habe sich zu Tode erschrocken, erzählt sie. „Um vier Uhr nachts sind wir aufgestanden, um nach Debrecen zu fahren. Sandor wäre auf dem Rückweg fast hinter dem Steuer eingeschlafen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Zum Glück ist es bei ihm mit diesen Scherzen vorbei. Er ist die Ruhe selbst geworden.“
Sandor Kosdi, selbsternanntes Nervenbündel voll ruheloser, manchmal tollkühner Ideen, wird froh darüber sein, dass seine Mutter ihn nun etwas bedächtiger findet. Sie spiegelt ihren Sohn schließlich an dem ebenfalls so ruhelosen Vater. „Mein Mann musste ständig etwas Neues probieren, ich meine, in der Gurkenzucht. Sehen Sie, die Tomate, das war damals noch ein einförmiges Massenprodukt, damit war wenig los. Die Gurke dagegen ist so empfindlich, das ist etwas für Spezialisten.“ Ihr „Sjors“ war ständig mit seinem Fach beschäftigt. „Dann hat er beispielsweise unsere alten Gewächshäuser abgerissen. Die fand er plötzlich zu niedrig. Sie waren genauso niedrig wie die in Manschnow, glaube ich. Ich war ja immer dagegen, gegen all diese Experimente und die damit verbundenen Scherereien. Aber er baute dann trotzdem höhere Gewächshäuser.“
Sjors und Helga zogen schon bald um nach Noorden bei Nieuwkoop, einem Gartenbaudorf an der Grenze zur Provinz Utrecht, wo sie ein schönes Stück Land bekommen konnten. Dort saßen sie zwischen den Blumenzüchtern, doch sei’s drum. Sie hatten genug zu tun, erzählt Helga Kosdi-van Spronsen: Mal musste wegen des Familienzuwachses ein Stück am Haus angebaut, dann wieder eine Heizung in die Gewächshäuser gelegt werden. „Auf die Dauer würde die Gurkenzucht nicht mehr ohne Wärme funktionieren, sagte mein Mann. Nun ja, wir dann wieder Geld geliehen. Das war damals ganz einfach, bei der Bank. Wir haben ziemlich oft Geld geliehen.“
Sandor Kosdi würde es mit Neid erfüllt haben. Seine Mutter erzählt, dass sie alle Investitionen über dementsprechend höhere Gurkenerträge im Nu wieder eingespielt hätten, und mehr als das. Das könnte Sandor mit seinen schönen Paprikas auch gelingen – wenn er denn in Ungarn solche bezahlbaren Kredite bekommen würde. Er träumt manchmal von einem beheizten holländischen Glasgewächshaus.
Sjors Kosdi wurde ein respektierter Gurkenproduzent. Helga Kosdi ist, trotz ihrer etwas konservativen Einstellung gegenüber den ständigen Neuerungen, stolz auf ihren Mann. „Er hat ein ganzes Kesselhaus gebaut. Erst hatten wir nur einen kleinen Ölofen im Gewächshaus.“
Das Öl im Gewächshaus machte in den siebziger Jahren Platz für Gas. Ganz anders als heute wuchsen die Gurken, Tomaten und Paprikas allerdings noch in Erde. Das bedeutete, dass der Boden des Gewächshauses jedes Jahr entkeimt werden musste: eine Heidenarbeit. Helga Kosdi-van Spronsen: „Das Entkeimen dauerte gut einen Monat. Aber es war nötig, wenn man jedes Jahr wieder Gurken ziehen wollte. Meine Eltern züchteten früher in Manschnow nie zwei Jahre hintereinander dasselbe auf demselben Boden. Sie wechselten zum Beispiel Tomaten mit Gurken ab. Das ist gut für den Boden. Dann hat man weniger Probleme mit Krankheiten, die in der Erde sind.“
Beim Entkeimen des Glasgewächshauses wurde, jedes Mal aufs Neue, achtzig Grad heißer Dampf unter eine Plane auf dem Boden geblasen. Die Hitze sollte die Krankheitskeime abtöten. Die Plane wurde an den Rändern mit schweren Ketten gehalten. Das Entfernen der knallheißen und bleischweren Ketten in einem Gewächshaus, in dem es dampfte wie in einem Türkischen Bad, war bis in die achtziger, neunziger Jahre ein typisch holländischer Studentenjob für den Sommer.
Sandor Kosdis jüngerer Bruder Albert zieht schon längst keine Gurken mehr in Erde. Steinwolle und anderes Substrat, wie etwa Kokos, ist im niederländischen Gewächshausanbau Standard. In diesem Sinne ist Sandor in Ungarn zu einer älteren, man kann es auch natürlicheren Anbauform nennen, zurückgekehrt: die in Erde. Er muss auf den Fruchtwechsel achten, wie es seine Großeltern mütterlicherseits in Manschnow taten. Sowie auf Tierchen und Pilze oder was es sonst noch an natürlichen Unannehmlichkeiten gibt. Er hat jetzt gerade angefangen, mit einer ersten Paprikazucht auf Kokossubstrat zu experimentieren.
In den siebziger Jahren war der Gurkenanbau seiner Eltern in Noorden gewachsen und gewachsen. Sjors Kosdi hatte schon bald drei Betriebe – und drei Söhne. Sandor, der Älteste, sei immer schon verrückt nach Ungarn gewesen, erzählt seine Mutter Helga. „Als Kind stand er mit einer Peitsche da und knallte und rief schon, dass er in die Puszta gehen würde.“ Ab ungefähr 1975, als der Kalte Krieg abflaute und die Familie Visa für Ungarn bekommen konnte, fuhren die Kosdis in ihrem ersten Auto regelmäßig zur dortigen Verwandtschaft in den Urlaub. Die Eltern von Vater Sjors lebten damals noch. „Und in Debrecen wohnte ein Schwager. Sandor fuhr dort jedes Jahr hin.“
Es ist jetzt nicht mehr gut vorstellbar, und womöglich übertreibt seine Mutter auch ein wenig, doch Sandor Kosdi muss sich während seines Studiums, ausstaffiert mit ungarischen Folklorehemden und in hohen Stiefeln, gern im Ungarischen Tanzclub im Westland, der von der Flüchtlingsgeneration gegründet worden war, gezeigt haben. Der Eiserne Vorhang war damals gerade aufgegangen. Sandor lernte eine Ungarin kennen, die als Au-pair-Mädchen in den Niederlanden arbeitete. Er hat seine Frau eigentlich seinem Vater zu verdanken, erzählt seine Mutter. „Mein Mann war aktiv in der ungarischen Gemeinde in den Niederlanden. Und dort hatte sich meine zukünftige Schwiegertochter gemeldet, weil sie sich ein bisschen einsam fühlte.“
Blut ist dicker als Wasser: Der dritte Sohn, Tibor, hat auch schon eine ungarische Freundin. „Er importiert in Ungarn Trecker aus China. Heute Morgen rief er an, dass er schon über zwanzig verkauft hätte.“ Der zweite Sohn, Albert, hat die Gurkenzucht fortgesetzt. 2011 ist der Gurkenbetrieb der Kosdis nach fast einem halben Jahrhundert in der Provinz Zuid-Holland, unter Alberts Leitung nach Oosterhout in der Provinz Gelderland umgezogen. Das Anbaugebiet in Noorden wird nämlich der Natur zurückgegeben: exakt, was die Unternehmer im Oderbruch fürchten.
Albert und Tibor wurden von ihrem Vater zur Ausbildung auf die Gartenbauschule geschickt, Sandor durfte, als ältester Sohn, ein Ingenieurstudium aufnehmen. „Sandor sah auch überhaupt nichts in der Gärtnerei“, erzählt Helga Kosdi-van Spronsen. „Er kam dabei gut weg. Die anderen Jungs mussten nach der Schulzeit helfen, Gurken sortieren und so. Aber jetzt ist ausgerechnet Sandor, weil es in Ungarn zufällig so gelaufen ist, Allroundgärtner geworden.“
Bis auf Gurken – die will er nicht anbauen. „Sandor glaubt, dass sein Vater am Gift im Gurkengewächshaus gestorben ist. Aber bei Prostatakrebs? Ich glaube das nicht. Außerdem hat mein Mann in den letzten Jahren zur Ungezieferbekämpfung vor allem Insekten eingesetzt und kaum noch gespritzt.“
Alberts Teenagerkinder wollen nicht in die Gurkenerzeugung, glaubt ihre Großmutter Helga aufgeschnappt zu haben. „Es ist ja auch gruselig. Ich meine, die Perspektive, nicht das Gift. Es muss alles immer größer werden. Und man hat sehr schlechte Jahre dazwischen und auch noch Katastrophen wie die EHEC-Infektion, die von den Deutschen zu Unrecht erst unseren Gurken zugeschrieben wurde. Meine Enkel wollen sowieso nicht in den Gartenbau, glaube ich. Na ja, Sandors Söhne in Ungarn sind noch klein. Seine Tochter, die Teenagerin? Ach, nein …“
Helga Kosdi-van Spronsen hat Ungarisch gelernt, die Sprache passte noch in die Sammlung. Jedes Jahr im Sommer ist sie einen Monat lang in Ungarn. Sie verbringt dann die meiste Zeit bei Sandors Familie im östlich gelegenen Hajdúdorog in der Puszta. Doch sie besucht auch stets für eine knappe Woche Komárom an der Donau, das Städtchen, wo noch eine Schwägerin ihres Mannes lebt. Nachdem das Tauwetter im Kalten Krieg eingesetzt hatte, wurde es für vertriebene Ungarn weniger schwierig, nach Komárom zurückzukehren. Und seit 2004, als sowohl Ungarn als auch die Slowakei der Europäischen Union beitraten, bietet sogar die einst so symbolisch beladene Grenze zwischen „den sozialistischen Brüdervölkern“ mitten auf der Donau freien Durchgang nach Komárno und Kosd.
Gergely/Sjors Kosdi starb 2006. „Er war eigentlich dagegen, dass Sandor sich in diesem rückständigen Gebiet an der rumänischen Grenze niedergelassen hat“, sagte Helga Kosdi-van Spronsen, „mit den vielen Zigeunern und so. Aber er hat trotzdem geholfen, die Scheune in Hajdúdorog zu bauen. Lauter gebrauchtes Material haben sie hier für Ungarn verladen.“
Es ist ein schweres Leben für Sandor, seufzt sie. „Voriges Jahr hatte er sehr viel Paprikas geliefert, die er nie bezahlt bekommen hat. Der Abnehmer war pleite.“ Das passiert in Ungarn nur allzu oft. „Aber es gibt auch eine Gemeinsamkeit mit den Niederlanden: Hier wie dort bekommt der Gärtner selbst in der gesamten Kette am wenigsten. Er ist ein Sklave des Supermarktes. Und das ist nach dem Tode meines Mannes nur noch schlimmer geworden, ich sehe es doch bei Alberts Betrieb.“
Helga Kosdi-van Spronsen hat mit ihren fünfundsiebzig Jahren viel mitgemacht. Sie ist dabei nüchtern geblieben. „Sandor hat mir neulich wieder eine große Kiste mit Paprikas geschickt“, erzählt sie. „Lieb von ihm. Aber warum? Das Zeug kann man hier auch kaufen, sogar die Spitzpaprikas erzeugt man jetzt hier. Holland produziert mehr Paprikas als Ungarn.“
Übersetzung: Gerd Busse
Der Untergang des regionalen Gartenbaus – Wo ist es nur, das Frischgemüse für Berlin?
Es scheint, wir sind wieder zurück beim Anfang vor hundert Jahren: In der MOZ-Nachricht handelt es sich, wie damals, um „Manschnow“ und „Tomaten“, um „das Glashaus“ und „Holland“. Laut der Broschüre des niederländischen Veredlers Enza Zaden in Enkhuizen, Traditionsfamilienfirma und Samen-Multinational in einem, ist ihre „Pureza F1“ eine „kräftige Pflanze, einfach zu kultivieren, für den Anbau auf Substrat“.
Aus den MOZ-Zeilen steigt ein zeitgemäß grenzüberschreitendes Gefühl auf. Fontana darf, so liest man, das Restgas der Erdölförderstation Gaz de France Suez in Küstrin nutzen. Und das Unternehmen bezieht seine Energie offenbar beiderseits der Oder, also auch aus dem polnischen Boden (über eine geheime Abzapfung? – die Angabe bleibt vage). Wie auch immer, die Manschnower Tomaten seien „seit Jahrzehnten ein ausgesprochener Verkaufsschlager“, so die MOZ.
Und wo kann man diese Tomaten kaufen? Die Regionalzeitung gibt die Antwort: „Beim Blumenhändler oder auf den Märkten“. Beim Blumenhändler, damit ist zweifellos das lokale Gartencenter von Frank Schütz gemeint. Er verkauft neben seinen Blumen ja auch schon Vater Walters Hobby-Tomaten. Und sonst, auf dem Markt?
Wo man sie bekommt, das ist wohl das größte Geheimnis dieser Oderbruchtomate. Sie ist zwar im nahen Golzow gesichtet worden, in der multifunktionellen Oderhalle. Die dortige Landwirtschaft baut selber nämlich nur noch Tomaten für die Industrie an. Ansonsten soll es noch ein paar kleine Abnehmer im Oderbruch geben, und einige im Grünen Gürtel um Berlin. Vielleicht steht auch noch jemand mit den Pureza-Tomaten auf einer der Berliner Wochenmärkte. Aber wo denn?
„Was sich jetzt ‚Fontana‘ nennt, war mal unsere LPG“, sagt Walter Schütz. „Oder besser, die sechs Hektar, die Manschnow davon geblieben sind. Die hat der ehemalige Produktionsleiter der LPG sich unter den Nagel gerissen, will ich mal so sagen. Und der hat sich bei den Holländern ein bisschen umgehört, sprich er hat sich ein paar Ratschläge in Sachen Tomaten geholt.“ Denn frische Tomaten waren zu DDR-Zeiten nur sehr begrenzt zur Verfügung, wie viele bezeugen können. Die Manschnower Tomaten seien „seit Jahrzehnten ein ausgesprochener Verkaufsschlager“ (MOZ)? Offenbar war das nur für einige Wenige, schlangestehend, oder es sind lediglich die Jahrzehnte nach dem Mauerfall gemeint.
Der Kontrast zwischen Fontana und der ehemaligen LPG in Golzow könnte größer nicht sein. In Golzow wurde eine Vorzeige-LPG verwaltet, die mit 6.750 Hektar etwa ein Zehntel des ganzen Oderbruchs ausmachte. Sie war der flächengrößte landwirtschaftliche Betrieb der DDR. „Die LPG-Nachfolgeorganisation, die Landwirtschaft Golzow, hat lange standgehalten“, erzählt Walter Schütz, „aber kürzlich ist sie denn doch übernommen worden.“ Sie ist jetzt eine Tochter der Agrargenossenschaft Odega, die somit der größte Landwirtschaftsbetrieb der Region wurde.
Die Firma Odega wirbt mit dem Spruch: „Wo die Natur noch gesund ist.“ Allerdings verwandelt sich die Natur bei der Firma „Frisch vom Feld ins Fass“. Auf der Abbildung sieht man nur Sauerkraut und eingelegte Gurken. Odega vermarktet vor allem Industriegemüse, Konserve und Tiefkühl. Damit lässt sich leichter kalkulieren und verhandeln als mit Frischgemüse. Die paar Hektar Tomaten, die noch angebaut werden, verschwinden anonym im Brandenburger Ketchup.
In Golzow leben heute höchstens noch 850 Menschen. Für sie reichen die benachbarten Manschnower Tomaten bestimmt aus. Die Berliner dagegen finden ihre ehemaligen Frischgemüsegarten Oderbruch statt frisch jetzt in Dosen wieder, tiefgekühlt oder eingelegt in „dekorativen“, „bedienfreundlichen“ Odega-Abdeckfässern, „mit oder ohne Hygieneschutz“, aber auf jedem Fall mit Sauer-, Senf- und Salzdillgeschmack.
Industriegemüse ist Billigproduktion. Es werden kaum noch Arbeitsplätze benötigt; lediglich eine Kraft auf dreißig Hektar ist keine Ausnahme. In 1875 hatte Golzow noch 2061 Einwohner, Tendenz wachsend. Im Jahr 2000 war nur noch die Hälfte übrig. Die Abwanderung im Oderbruch hat seitdem nicht nachgelassen. Was ist von der landwirtschaftlichen Erfolgsgeschichte geblieben? Vom Aufschwung, den einmal der „eingewanderte Holländer Van Spronsen“ mitgeprägt hat, der 1906 beim Golzower Amt aufgetaucht war?
Als Vorzeige-LPG hatte Golzow noch die Ehre gehabt, viele prominente Staatsgäste der DDR zu empfangen. Einer der bedeutendsten Besucher war 1984 der nordkoreanische Präsident nebst Generalsekretär des ZK der PdAK, Kim Il Sung. Allerdings wurde dem Promi vorgetäuscht, er sei in einer anderen LPG als die Golzower, und zwar eine, die er bereits 1956 besucht hatte, und die er nun noch einmal sehen wollte. Das ging aber schlecht, denn diese LPG war 1984 gar kein Musterbetrieb mehr. Also ging’s in die Golzower LPG, die – o, Pech! – incognito blieb, aber der befreundete Diktator war zufrieden (s. Berliner Zeitung, 2013: Wie die DDR-Oberen im Oderbruch den nordkoreanischen Diktator Kim Il Sung an der Nase herumführten).
Ein weiteres Erfolgskapitel im Leben der Golzower Landwirtschaft wurde bekannt, als die EU-Subventionen vor ein paar Jahren veröffentlicht werden mussten. Die LPG-Nachfolge-GmbH hatte zwischen 2002 und 2008 fast 11 Millionen an EU-Subventionen erworben. Die Springerpresse titelte den Beitrag über Brandenburgs EU-Subventionsschlager: „Golzows Kinder sind erwachsen“.
Das war ein Hinweis auf eine Erfolgsstory anderer Art: die Langzeitdokumentation Die Kinder von Golzow. Das sind zwanzig Filme von Winfried und Barbara Junge über Golzower, die ab 1961, gleich nach dem Mauerbau, über Jahre hinweg und bis ins neue Millennium porträtiert werden. Die fünfzig Filmstunden der DEFA, das Staatsfilmunternehmen der DDR, verschaffen einen einmaligen Einblick ins verstaatlichte Landleben. Die Chronik fängt quasi an, als die „kapitalistische“ van Spronsenfamilie weggezogen ist, und die erste Generation wahrer Sozialisten heranwachsen konnte.
Das Regieteam folgt nicht nur den Idealbürgern. Egal wie engagiert ihr Einsatz für den Sozialismus auch sein mochte: Für alle Golzower kam der Mauerfall wie ein Meuchelmörder. Bis dahin hatten die meisten im Gemüsegarten der DDR eine sichere Arbeitsstelle gefunden, oft in der riesigen Golzower LPG. Der damalige Vorsitzende dieser Vorzeige-LPG und seine Tochter, die spätere DDR-Bürgermeisterin, zeigen in der Dokumentation ihre Frustrationen über die Wende und ihre Folgen für „ihre“ LPG.
Die beiden kontrastieren auf spannende Weise mit dem Werdegang der Landarbeiter. Einer von ihnen, ein schweigsamer, solider Typ, kann sich nach der Wende plötzlich entfalten. Ab 1995 baut er in der Ukraine auf einem ehemaligen Kolchos Kohl an, in einer Art „Joint Venture“ mit der Golzower Landwirtschaft. Sein Jugendfreund, ein weltoffener Mensch, ist, wie viele andere, trotz anhaltenden Versuchen, mit immer schlechteren Jobs über die Runde zu kommen, am Ende der Dokumentation arbeitslos und ziemlich frustriert. Die Kinder von Golzow ist spannendes Kino, visuell mitreißend und selten besserwisserisch.
Indirekt erzählt der Film auch vom Leben der Familie Schütz. Walter und Frank haben, ebenso wie ihre Nachbarn in Golzow, miterlebt, wie das Oderbruch nach dem Mauerfall seinen Charakter geändert hat, insbesondere im letzten Dezennium. Walter Schütz zeigt auf das, was ohnehin ins Auge spingt: Maisfelder ohne Ende, nur unterbrochen von riesigen Sonnenblumenfeldern, leere Wiesen, gelegentlich eine Biogasanlage… alles hier wirkt monoton. Bei einer so langweiligen Infrastruktur denkt man schnell an den Plansozialismus. Walter Schütz korrigiert: „So sieht es hier erst in den letzten Jahren aus. Das war zu DDR-Zeiten alles Produktionsfläche für Gemüse, Getreide, Obst… eine Art Vielfalt. Bis in die kleinste Ecke wuchs irgendetwas. Ich musste das ja alles bewässern.“
„Das bisschen, was zu DDR-Zeiten noch von der Vorkriegsauswahl und Abwechslung in der Landschaft übrig geblieben war“, ergänzt Sohn Frank, „ist nachträglich weitgehend zerstört worden.“ Die Metamorphose der Landschaft ist also jüngeren Datums. Die Menschen im Oderbruch wurden von zwei dramatischen Umwälzungen erfasst: der Wirtschaftskrise und dem Klimawandel. Oder genauer gesagt waren es eigentlich die Reaktionen auf beide Dramen, die in ihrer Wechselwirkung den Boden zum Spekulationsobjekt gemacht haben.
Im Kampf gegen die Erderwärmung ist Biomasse ein wichtiger, weil erneuerbarer, Energieträger. Insbesondere Mais für Biogasanlagen wurde vor knapp zehn Jahren zum neuen Hoffnungsträger. Und im Kampf gegen den Wertverlust ihres Kapitals auf dem unsicheren Finanzmarkt entdeckten Anleger den ostdeutschen Boden als Hoffnungsträger für Investitionen. Landflächen sind in Krisenzeiten eine sichere Investition, vor allem wenn sie dank der stark nachgefragten Biomasse zur überteuerten Mangelware avancieren.
So machten sich ein paar Holdings daran, das Brandenburger Land unter sich aufzuteilen. Die Bodenpreise waren vor wenigen Jahren, anders als zum Beispiel in Niedersachsen, noch auf Ostblock-Niveau, und außerdem, als ehemaliges „Volkseigentum“, in großen Mengen verfügbar: „Heute investieren. Morgen ernten.“ Heute liegt eine satte Mehrheit der Agrarflächen der neuen Bundesländer in den Händen von nur wenigen Besitzern. In den alten Ländern wäre so eine solche Monopolstellung auf Grund der Eigentumsstrukturen unmöglich. Die neuen Landwirte sind eher Industrielle und Investoren als Bauern. ‚Die neuen Chefs fahren manchmal vorbei – durch Land, mit dem sie nichts verbindet‘, sagt Walter Schütz. „Sie produzieren alles was groß gefördert wird, in erster Linie für Biogasanlagen.“
„Sie“ stammen aus Hamburg oder Homburg, heißen KTG Agrar oder Agrarius und sind börsennotierte Aktiengesellschaften. Für Leistungen mit erneuerbaren Energien kassieren sie alle möglichen Förderungen, Boni und Prämien in Millionenhöhe, vom Bund und der EU. Ihr Bestand wächst jährlich um einige tausend Hektar. Die KTG Agrar AG, zum Beispiel, gehört laut ihres eigenen Presseberichts „mit Anbauflächen von mehr als 30.000 Hektar zu den führenden Produzenten von Agrarrohstoffen in Europa.“
Die neuen Eigentümer sind nicht immer sichtbar. Das Land wird in dem Fall weiterhin verpachtet oder noch unter den Namen des alten Agrarbetriebs bewirtschaftet. Das gilt vor allem, wenn es schon vor der Übername eine starke Marke gab, wie zum Beispiel Frenzel Oderland-Tiefkühlkost in Manschnow – jetzt mehrheitlich im Besitz von KTG. Die Bewohner des Oderbruchs, sie wissen das alles allerdings genau. „Und wieder geht ein Unternehmen von hier in den Kapitalsumpf von unbekannten Investoren über“, wie ein Leser im Forum der Märkische Oderzeitung formuliert.
Frank Schütz hält an erster Stelle das Subventionssystem für diese Entwicklung verantwortlich: „Alle Bauern bekommen Pauschalbeträge pro Hektar, das ist das größte Übel“, seufzt er. „Gartenbau lohnt sich bei uns dann viel weniger als diese Mono-Anbaukulturen, die die Landschaften plattmachen. Die ökologischen Parteien sollten hier gegensteuern, aber gerade die haben sich diese Biogasanlagen ausgedacht, das ist ja das Schizophrene.“
Heute gibt es etwa 7.800 Biogasanlagen in Deutschland – in den Niederlanden sind es kaum 500, und in Ungarn schätzungsweise 50. Die Mehrheit dieser Einrichtungen auf deutschen Boden ist klein und ökologisch sinnvoll, weil wirklich nachhaltig. Sie erzeugen eigenen Strom, und für das Dorf gleich mit, mit biogenen Abfällen und Reststoffen wie Gülle – dazu mit dem Gülle-Bonus belohnt. Aber es gibt auch viele Biogasanlagen, die so viel Kapazität haben, dass es in ihrer Umgebung nicht ausreichend „Futter“ aus organischen Reststoffen für sie gibt, wie Frank Schütz es ausdrückt.
Solche große Biosgasanlagen befinden sich zumeist ausserhalb von Brandenburg. Sie benötigen tausend Tonnen Mais pro Tag, egal woher. Wie praktisch… Gerade dazu gibt es doch die relativ fruchtbaren und leeren Regionen wie das Oderbruch! Der Silomais, der dort angebaut wird, ist die wichtigste Ursache der gestiegenen Bodenpreise. Der Mais wächst nämlich tüchtig im Oderbruch, vor allem wenn die Pflanzen auch noch mit riesigen Mengen Gift quasi Nachhilfe bekommen, von Kunstdünger und Pestiziden und sonstigen chemischen Mitteln. Das ist schließlich „Energiemais“, der wird nicht gegessen, der wird in den Bioanlagen verbrannt, also was soll’s. Am liebsten spendiert man dem Boden schon vorab einen veredelnden Chemiecocktail, damit das Unkraut nicht von bezahlten Arbeitskräften weggepflückt werden muss. Zum Glück der Anleger gibt es in diesem Industriezweig kaum Jobs.
In ganz Brandenburg steht derzeit auf fast ein Fünftel des Ackerlands Mais. Aber die Verteilung im Bundesland ist ungleichmäßig: das Oderbruch ist ungleich stark vom Maisanbau betroffen. Hinzu kommen noch Sonnenblumen und andere „Silopflanzen“. Seit 2008 sind die Preise für das hiesige Ackerland explodiert, Kauf- und Pachtpreise. Aber der kommerzielle Wert des Bodens liegt noch immer unter dem der alten Bundesrepublik. Gerade deswegen sind die Kapitalanleger ja hinter dem Land im Osten her. Schütz: „Sie kaufen es, und verpachten es dann für viel zu viel Geld an die Bauern, die Land brauchen, und sich darauf bei der Bank hoch verschulden müssen.“
Die gar nicht kleine Golzower Landwirtschaft, Tochter von Odega, ist eine Firma „von hier“ geblieben, so betont die Odega-Leitung immer wieder. Auch sie sah sich mit auslaufenden Pachtverträgen konfrontiert. Ihr blieb nur die Möglichkeit, das Land überteuert zu kaufen, denn sonst wäre es futsch gewesen, und für Einlegegurken, Kohl und Kartoffeln verloren. Aber auch dies passiert: Rinderzüchter und Agrarier stellen sich „freiweillig“ auf Mais um, der attraktiven Gewinne wegen.
Das ist das Grüne Paradox: Die Wende in Richtung der erneuerbaren Energien zerstört die landschaftliche Vielfalt. Die Bewertung der neuen Agrarindustrie im Oderbruch und anderen Orten ist allerdings eine Sache der Perspektive. Die einen sprechen positiv von der neuen „Energielandschaft“ und der „wunderbaren Wertsteigung der Boden“. Die anderen von einer „Goldgräberstimmung“ (Der Spiegel 2010) und von ackerfressenden „Heuschrecken“ (Märkische Allgemeine, 2013).
International wird für diese Spekulation mit Boden der Begriff „Land Grabbing“ gebraucht, „Land ergreifen“ oder „Land an sich raffen“. Die großen Biogasanlagen verschlingen Land, aber der Begriff trifft auch auf die Kapitalanleger zu. Land Grabbing ist ein weltweites Phänomen. Landwirtschaftsfremde Konzerne, wie Fondsgesellschaften oder Banken, investieren in Äcker irgendwo auf der Welt. In der Agrarius-Infobroschüre: „Gerade die noch recht jungen EU-Länder, wie Polen, Tschechien, Bulgarien, die baltischen Länder, und vor allem Rumänien, bieten Unternehmern im Agrarbereich Chancen, die im westlichen Teil Europas weitgehend ausgeschöpft sind.“ Das Versprechen: „Mindestens 10% jährlichen Gewinn.“
Rumänien legt, wie Deutschland, aber anders als zum Beispiel Ungarn oder Polen, den ausländischen Investoren keine Steine in den Weg. Der West-Europäer, der ins Oderbruch investiert, profitiert zweifach: Sein Geld ist in der sicheren Bundesrepublik, und gleichzeitig in einem günstigen „jungen EU-Land“ (Brandenburg) unterwegs.
Von Manschnow aus durchblickt Walter Schütz die weltweiten Zusammenhänge recht gut. „Es sind nicht nur die Biogasanlagen, sag ich mal. Was in Südamerika und Afrika angebaut wird, um hier bei uns auf Bio-Ethanol umschalten zu können‚ ersetzt die Nahrungswirtschaft für die hungerende Bevölkerung dort.“ Davon sifft ab und zu etwas in den Medien durch. In Sierra Leone pflanzt gerade eine Schweizer Firma Zuckerrohr für europäischen Biosprit an, also für Diesel und Ethanol. Sie pachtet das Land von Dorfbewohnern, die mit falschen Versprechen abgespeist wurden und ihre Lebensgrundlage verloren. Im Senegal verlieren gerade über 9.000 Bauern ihre Existenz (Wiesen, Wasser, Bäume), für die Biospritplantage einer internationalen Investierungsgruppe.
Wasser gibt’s reichlich im Oderbruch. Aber trotzdem droht das Land gewissermaßen zu verdorren. Denn Nachwuchs für die Region wie Jungbauern, Quereinsteiger oder auch Öko-Kleinbauern können sich kaum neues Land leisten. Und der großflächige Anbau für Biogasanlagen sonstwo schafft keine Arbeitsstellen. Er führt eher zu einer Reduktion der noch existierenden land- und gartenwirtschaftlichen Facharbeit.
Mit Aktionen wie „Bauer sucht Land“ fordern ostdeutsche Nachwuchsbauern „Schluss mit Land Grabbing“ und „eine faire Chance beim Zugang zu Agrarland“. Das Paradox der Biogasanlagen, wenigstens in der heutigen, extremen Praxis, wird unterdessen auch von den ehemaligen Grünen Befürwortern anerkannt. Sicher, es muss ausreichend Biogas produziert werden, eine der Bedingungen um die Klimaziele zu erfüllen. Aber der Mais für diese Bio-Energie wird gegen alle Öko/Bio-Prinzipien produziert. Allein schon der übliche Dünger – Stickstoff – produziert Lachgasemissionen, die laut mehreren Forschungsberichten 300 Mal stärker als CO2 sind. Wie erneuerbar ist ausgeschöpfter, schwer kontaminierter, und dazu noch überteuerter Boden? Das fragen sich Vater und Sohn Schütz, und noch manch anderer Bewohner des Oderbruchs.
Auch die Fruchtfolge, die Abwechslung der Gewächse zum Erhalt eines gesunden Erdebodens, wird bei Energiemais oft nicht eingehalten. Dafür könnten die Großinvestoren zwar mit Entzug der klassischen EU-Quadratmetersubvention bestraft werden. Aber den Gewinn plus Fördergelder für den unablässigen Anbau kompensieren diesen Verlust offenbar reichlich. Wenn die Fruchtfolge nicht respektiert wird, muss auf den ausgezehrten Boden allerdings noch mehr gespritzt werden.
Ein Beamter vom Landesumweltamt steht in der Brandenburger Schorfheide zwischen den Energiemaisflächen. Er belegt und kommentiert den Schaden der Biogashausse für dieses Naturschutzgebiet. Abertausende Hektar jährlich erwirbt die Agrarindustrie allein schon in Brandenburg. Das „Biosphärenreservat“ Schorfheide-Chorin, fünfzig Kilometer vom Oderbruch entfernt, müsste in der Zukunft sein Adjektiv „Biosphären“ („Raum zum Leben“) ablegen, wenn nicht grundsätzlich eingegriffen wird. Die Landschaft wird steril sein, eine artenfeindliche Wüste, so der Tenor seiner Worte.
Diese Szene ist einem Dokumentarfilm entnommen, der Climate Crimes heiß, Umweltverbrechen und Vertreibung im Namen des Klimaschutzes. Die österreichischen Filmemacher Ulrich Eichelmann und Christoph Walder fanden die geeigneten Drehorte für ihre Dokumentation aus dem Jahr 2011 in Brasilien, dem Irak und Indonesien, im Osten der Türkei… und im Osten Deutschlands.
Drei Jahre später tritt Brandenburgs Wirtschaftsminister auf einer Veranstaltung für ausländische Journalisten zum Thema Energiepolitik auf. Der Landesminister spricht über fossile und erneuerbare Energien. Über die Biogasanlagen verliert er kein Wort. Auf direkte Nachfrage hin fällt ihm lediglich ein, neben Mais könne man andere, schnellwachsende Energiepflanzen verwenden, die den Boden weniger auszehren…
Der Minister gehört der Linkspartei an. Hätte man von ihm nicht eher Kritik am „Kapitalsumpf“, wie es Kritiker nennen, erwartet? Wieso hat er nicht geantwortet, es sei „neuer Großgrundbesitz entstanden, schlimmer als im Feudalismus“, wie es sogar Wissenschaftler schon formuliert haben? Oder auch nur „dass Bodenspekulation Arbeitsstellen kostet“?
Wenn der Landeswirtschaftsminister etwas derartiges geantwortet hätte, würde man ihm, als Linken, vermutlich nicht mehr um die Ohren schlagen, dass manche der damaligen „roten Junker“, die LPG-Chefs der DDR, das volkseigene Land nach der Wende zu subventionierten Preise erwerben konnten – wie Walter und Frank Schütz bezeugen. Diese Großgrundbesitzer waren später in der komfortablen Lage, das ehemalige LPG-Land für ein Vielfaches des Kaufpreises an die Hamburger und Homburger Aktiengesellschaften zu verkaufen.
Ein interessantes Detail ist dabei, das die Besitzer, egal ob Personen oder Firmen, mit der BVVG verhandelten. Die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH ist ein staatliches Unternehmen, das die einst volkseigenen Felder und Forste privatisiert. Sie ist ein Nachfolgeunternehmen der Treuhandanstalt, die zuvor mit der Abwicklung der DDR-Betriebe beauftragt war. Die BVVG hat als politischen Auftrag, erstens die bestmöglichen Preise zu erzielen, und zweitens vor 2025 alle Privatisierungen abzuwickeln.
In den letzten Jahren sind die Preise für Ackerland in Brandenburg pro Jahr um fast zehn Prozent gestiegen, hat die BVVG berechnet. Im Februar 2014 konnte sie der Presse selbstzufrieden mitteilen, dass die Äcker und Wälder in Brandenburg „wieder wertvoller“ geworden sind. Das frühere DDR-Staatseigentum war binnen eines Jahres durchschnittlich um 23 Prozent teurer geworden. Die BVVG hat 2013 für Brandenburg mittels Landverkauf 118 Millionen Euro eingenommen.
Beim Umweltbundesamt werden andere Ziele verfolgt. Auf Energie aus Feldfrüchten, ganz gleich ob für Biosprit oder Biogas, „sollte man besser ganz verzichten“, warnte ein Sprecher des Amtes Anfang 2014 in einem Tageschau-Beitrag im deutschen Fernsehen. Sollte, hätte, Fahrradkette… Was wird nun werden? Am 27. Juni 2014 hat eine Bundestagsabstimmung zur EEG-Reform, dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz, stattgefunden. Die Biogasanlagen hatten dort, das war deutlich, keine Priorität. Es sieht zurzeit so aus, dass den schon exitierenden Anlagen wenig in den Weg gelegt wird; die Größten unter ihnen müssen höchstens mit weniger Boni rechnen. Eine grundsätzliche Kehrtwende der jetzigen Situation ist allein schon juristisch kaum durchsetzbar. Für Neuanlagen werden die Bundesförderungen für Strom aus Energiepflanzen allerdings wohl beschränkt werden.
Das Gesetz ist allerdings noch nicht ganz ausverhandelt, zudem muss es noch mit der EU-Regelgebung abgestimmt werden. Die Berichterstattung ist deswegen zumeist ziemlich vage oder gar widersprüchlich. Laut dem Fachverband Biogas, Europas größter Interessenvertretung der Biogas-Branche, gefährden die Reformpläne, wegfallender Förderungen („Schutz“) wegen, die Existenz hunderter größerer Biogasanlagen, wie auch den Neuanlagenbau. Das ist natürlich Lobbysprache. Und was wären schon hunderte Anlagen, die nicht mal verboten werden, sondern weniger Zuschüsse bekämen, in Relation mit dem Bestand von 7800?
Aus Brüssel ist eine grundsätzliche Wende in der Energiepolitik ebenfalls nicht zu erwarten. Die Reform der „Gemeinsamen europäischen Agrarpolitik“ (GAP) ist nicht gerade revolutionär ausgefallen, und sie bietet den Staaten zudem nur einen wenig verbindlichen Rahmen. Die „Vermaisung“ der Felder wird nicht grundsätzlich gestoppt werden.
Zusätzlich gibt’s noch der neue UNO-Bericht zum Klimawandel, der im April 2014 ausgerechnet in Berlin erstellt wurde. In diesem Bericht der Vereinten Nationen heißt es, die weltweite CO2-Emission sei in den vergangenen zehn Jahren so stark gestiegen wie nie zuvor. Die Menschheit müsse dringend handeln. Aber wie denn, wenn die erneuerbaren Energien, die allgemein als Lösung gesehen werden, schon im Oderbruch solche gravierenden Nebenwirkungen haben? Der deutsche „Atomausstieg“ bringt riesige Dilemmas hervor. Eine der Alternativen für Biogas, die Umweltkatastrophe Braunkohle, erlebt bereits eine Wiedergeburt – oder, besser formuliert, ist zurück von nie weggewesen sein.
Viele Verbraucher sehen in der „Regionalisierung“ der Nahrung ein konkretes Mittel, Gutes für die Umwelt zu tun. Frischwaren, die „von hier“ kommen, haben keine langen Transportwege hinter sich und verursachen somit weniger zerstörerische CO2-Emissionen. Dieser positive Effekt geht allerdings bei geheiztem Gewächshausgemüse, wie zum Beispiel Tomaten, verloren: sonnengereifte Exemplare, die von weither kommen, sind in dieser Hinsicht nachhaltiger als geheizte von hier. Wie auch immer, „Local for local“ liegt voll im Trend, in Deutschland allerdings mehr als in der Exportnation Niederlande.
Aber zwischen Traum und Tat liegen Welten. Frank Schütz hält solche Regionalisierungswünsche für wirklichkeitsfremd. Die Entwicklungen im Oderbruch sind eher auf eine Ent-Regionalisierung hinaus gelaufen. Schütz hat sie in ein Paradox gefasst: „Zu DDR-Zeiten“, sagt er, „waren Regionalprodukte gar nicht gefragt. Aber es gab sie. Heute ist regional und frisch die Norm. Und was sehen wir? Die Berliner werden kaum noch mit unseren Frischgemüsen beliefert. Siebzig Kilometer von Berlin entfernt, schaffen wir es heute nicht mehr, die Stadt mit Frischwaren zu versorgen. Das ist absurd.“
Schütz fragt sich, warum statt der Berliner Bevölkerung die Biogasanalagen die frischen Landwirtschaftsprodukte konsumieren. Berlin hat heute schließlich weniger Einwohner als noch vor dem Zweiten Weltkrieg, die Blütezeit der Spronsen-Gärtnereien im Oderbruch. Die logische Folgefrage hat Schütz so formuliert: „Wie kann es sein, dass man heute aus den Niederlanden billigere Tomaten auf den ostdeutschen Markt bringen kann, als wir selbst produzieren können?“
Es ist wahr: Nur der Berliner, der sehr lange und fanatisch sucht, wird vielleicht irgendwann einmal im Supermarkt auf Regionaltomaten treffen, zwischen all der Tomatengewalt aus den Niederlanden, aus Spanien und sonstwoher. Und dann wird er sie nicht einmal identifizieren können, diese raren Gewächshaustomaten aus dem Oderbruch. Er wird nur lesen „Brandenburg“ und „Abgepackt bei Werder Frucht“. Werder liegt weit vom Oderbruch entfernt, bei Potsdam. Der Verbraucher erfährt nicht, dass just diese Tomaten aus Wollup im Oderbruch stammen.
Nun waren ausgerechnet Frischtomaten aus dem Oderbruch auch zu DDR-Zeiten, wie gesagt, schon Mangelware. Aber Konkurrenz von Tomaten aus dem kapitalistischen Ausland gab es damals wenigstens nicht, wie Schütz höhnisch feststellt. Ebenso unbekannt war in der Deutschen Demokratischen Republik die Bodenspekulation, wie auch die Politik der erneuerbaren Energien, deren unbeabsichtigte Folge sie ist. Was heute auf dem Land produziert wird, folgt einer anderen Logik, als noch bei den van Spronsens oder in der DDR. Diese Logik der Gegenwart stimmt Menschen wie Schütz ein wenig traurig.
In den Niederlanden sind frische Regionalprodukte nicht so gefragt wie in Deutschland. Aber es gibt sie massenhaft, ungeachtet hoher Arbeitskosten. Das Westland könnte tausende Großstädte mit Gemüse versorgen. Aber die Einwohner der umliegende Städte Den Haag und Rotterdam kaufen genau so gern Tomaten aus Spanien oder sogar aus dem Senegal oder Marokko – von je weiter sie kommen, desto billiger – als aus der Gläsernen Stadt, seinem ‚Gemüsegarten‘ nebenan. Genau das hat Frank Schütz aus Manschnow festgestellt: Der Regionaltrend ist im heutigen Europa eher whishful thinking, salbungsvolle Theorie.
Epilog und Ausblick
Zum Buch Biografie der Tomate – Vom Samen bis zum Superstar auf dem europäischen Markt (Werktitel)
Frank Schütz hat einige Kernfragen angeschnitten, die im Buch Biografie der Tomate* in ihren verschiedenen Facetten analysiert werden. Etwas allgemeiner formuliert: Wieso wird heutzutage die Großstadt weniger mit Frischwaren aus der Region versorgt als früher, und warum sind zum Beispiel Tomaten aus den Niederlanden meist billiger als die „heimischen“?
Viele Deutsche und Österreicher stellen sich die gleiche Frage, Niederländer hingegen eher selten. In meiner Wahlheimat Berlin hat man meist eine schnelle Antwort parat, und in Wien möglichst noch schneller, wie ich dort 2013 erlebt habe, während meines Visiting Fellowship am Institut für die Wissenschaften vom Menschen. Diese Antwort lautete fast immer: „Aber Annemieke, das ist doch, weil die Tomaten, die ihr um die Welt schickt, so beschissen sind“.
Ja, ich bin Niederländerin. Und nein, ich schreibe kein Promotion-Buch für die holländische Tomate. Aber diese Antwort ist wirklich etwas zu kurz gegriffen, „kurz um die Kurve“ sagt man auf Niederländisch („kort door de bocht“). Ich habe dann meistens provozierend geantwortet: „Die Niederländer produzieren genau die Tomaten, sehr aromatische ebenso wie sehr geschmackslose, die ihr Deutschen und Österreicher von ihnen verlangt“.
Es gibt nicht die eine richtige Antwort auf die Fragen von Frank Schütz. In der Wirklichkeit des Frischgemüses geht es, wie aus dem Prolog hervorgeht, selten monokausal zu. Wo ich Ursachen auf die Spur gekommen bin, habe ich bemerkt, dass sie eher selten auf das Handeln von einzelnen Menschen, Berufsgruppen oder auch Regierungen und Institutionen zurückzuführen sind. Es gibt beim Werdegang der Tomate sozial-wirtschaftliche Ursachen und politische Entwicklungen, es gibt handelnde Menschen, und es gibt sowohl gewollte als auch nicht beabsichtigte Folgen.
Im Prolog habe ich versucht, einige dieser Faktoren in ihrem Zusammenhang zu skizzieren: anhand einer grenzüberschreitenden Familiengeschichte. Hier ging es mir weniger um die Tomate als, allgemeiner, um die Entwicklungen des Gartenbaus in Europa, im Kontext des letzten Jahrhunderts. Die Paprikas von Sandor Kosdi zum Beispiel haben etwa den gleichen europäischen Werdegang, wie er selbst: Der Samen war irgendeinmal ungarisch und ist, nach fruchtbarem Umherirren in den Niederlanden, quasi veredelt in die ungarische Puszta zurückgekehrt.
Die Wirklichkeit von sowohl Kosdi als auch seinen Paprikas ist allerdings weniger romantisch, und zudem viel komplexer. Auf der Suche nach grundsätzlichen Erklärungen für die scheinbaren Ungereimtheiten und Absurditäten, die die Frischgemüsebranche hervorbringt, lohnt sich ein Blick über die Grenzen – mehr Grenzen als im Prolog schon überschritten wurden. Im bevorstehenden Buch werden die Fragen, die beim Lesen des Prologs aufgezeigt wurden, an Hand der Tomate analysiert und wo möglich auch beantwortet. Die Tomate ist hier das Symbol für die Paradoxe der europäischen Frischnahrungswelt schlechthin.
Nahrung ist ohnehin ein heikles Thema. Es existieren in dem Bereich viele Vorurteile und Missverständnisse, manche ziemlich hartnäckig und faktenfremd. Um die so geliebte Tomate kochen die Emotionen allerdings besonders hoch. Viele sprechen zum Beispiel von der „schrecklichen Gentomate“ – aber gibt es sie denn wirklich? Wo hört die Wahrheit auf und fängt die Fiktion an? Und wo liegen die wirklichen Gefahren der Frischnahrungsströme für die Verbraucher, die Produzenten, die Umwelt, und die Welt jenseits Europa? Welche Mythen werden von der Bio-Industrie gefüttert, sowohl „Bio“ im Sinne von „Techno“, als auch im Sinne von „Öko“? Was sind die positiven Seiten der innovativen Tomatenwissenschaft? Und wer bestimmt, oder manipuliert, all dieses Wissen?
Ich habe fünf Jahre gebraucht, um den europäischen Frischgemüsehandel einigermaßen zu begreifen. Dazu habe ich einem Dutzend ost- und westeuropäischen Staaten recherchiert. Vor Ort habe ich mit den unterschiedlichsten Professionals in der Tomatenbranche gesprochen, vom Samenveredler bis zum Subventionsverteiler, vom Züchter bis zum Zeitarbeiter, und vom Gewächshausbauerm bis zum Geschmackstester, Gemüsehändler und Gentech-Biologen. Ich bin herumgelaufen, habe geschaut und gelesen. Und ja, auch probiert habe ich. Ich lasse mich beim Testen von Tomaten allerdings genau so verführen wie alle. In einem mediterranen Hafen bei Sonnenuntergang schmecken sogar höchstgiftige lokale Tomaten ohne Geschmack wunderbar, wenn reichlich in Olivenöl und Schafskäse getaucht.
Oft wird Recherchejournalistik, „investigative journalism“, beschrieben als die Aufdeckung großer Skandale. In meinem Buch geht es eher darum, dass die Absurditäten, d.h. die geplanten sowohl wie die unerwünschten Folgen der Frischnahrungsströme in Europa, sich innerhalb eines legalen Rahmens abspielen. Abgesehen von ein paar schwarzen Schafen in der Branche, wird es keine Aufdeckung einer Tomatenmaffia geben. Nein, auch keiner niederländischen, obwohl man in den deutschsprachigen Ländern meint, dass die Niederländer den guten Geschmack mit Absicht herausfordern. Zugegeben, die Züchter versuchen natürlich schon „vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden“.
Die Tomate ist das beliebteste Gemüse schlechthin (manche sagen „Obst“, aber diese Diskussion ist belanglos). Deswegen könnte man sich fragen, ob das Skandalöse in diesem Buch nicht eher darin liegt, dass das europäische Frischgemüsegeschäft, das für viele kleine Züchter, wie auch für manchen anderen Europäer, so negative Folgen hat, sich innerhalb des demokratisch legitimierten Rahmens der Europäischen Union abspielt. Und Nein, mit diesem Einwand wird nicht die Existenz der (erweiterten) EU an sich infrage gestellt.
Ich schreibe ein Buch über Tomaten, das auch Porträts über Menschen bietet. Ich will die Spieler auf dem Feld verstehen. Es ist keine wissenschaftliche Studie, sondern eine journalistische: eine, die wissenschaftliche Daten neben vielen anderen Daten verwendet. „Slow Journalism“, nennen manche meine Herangehensweise. Ich betrachte das als Kompliment. Die Tomate ist nämlich „Very Fast Food“. Sie bewegt sich dermaßen schnell über den europäischen Kontinent, dass man andauernd auf die Bremse treten muss, um alles zu verstehen.
Die europäischen Profis, die ich ausführlich gesprochen habe, betreiben ihr Geschäft mit Leib und Seele. Die meisten waren gern bereit, ihren Lebenslauf sowie ihre Sorgen und Träume mit mir zu teilen – auch jenseits ihrer wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Eigeninteressen. Gemeinsam liefern die Experten das Bild einer Kette von Ereignissen im Tomatenleben – von ihrer Geburt bis zu ihrem Ende, wenn sie gegessen wird. Auch der Verbraucher hat, so betrachtet, als Endstation eine Macht, die weiter reicht als das rituelle Klagen über das, was man trotzdem immer wieder kauft.
Abschließend taucht jedoch noch eine weitere dringende Frage auf. Es ist eher eine philosophische Frage, aber sie spielt im Frischgemüsehandel eine entscheidende Rolle: die Frage nach der nationalen Identität der Waren. Die Samen für die so ungarischen Spitzpaprikas kommen heute, wie schon erwähnt, gutenteils aus den Niederlanden. Auch Die niederländische Tomate ist überall in Europa präsent, auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist. Als Samen kann sie, zum Beispiel, vermummt als „typisch rumänische rosa Tomate“ auftauchen. Auch als Steckling kann sie reisen, wie zum Beispiel ins Oderbruch.
Wir alle reden von deutschen, österreichischen und niederländischen Tomaten, so als ob deren nationale oder regionale Identität eine ausgemachte Sache sei. Der Herkunftsbeleg ist für viele wohl das allerwichtigste, und damit wird heftig geworben. „Wir essen nur österreichische Tomaten“ – wie oft ich das nicht in Wien gehört habe. Da habe ich auch mal mürrisch geantwortet: „It’s the seed, stupid!“
Der Verkaufsmanager eines nagelneuen Tomatengewächshauses im Norden Deutschlands Gab mir diese Antwort auf die Frage nach der Identität seiner Tomaten. „Ob unsere Tomaten deutsche sind? Selbstverständlich, denn sie wachsen hier, also auf deutschem Boden. Das sehen die Verbraucher gern! Aber tatsächlich ist das Gewächshaus von Holländern gebaut worden, die ganze Technologie ist niederländisch und flämisch, die Stecklinge stammen aus Holland… Die Hummeln und die biologischen Schädlingsbekämpfer, wie die Wanzen die hier herumfliegen, all diese Nützlinge sind ebenfalls niederländischer Herkunft. Ja, eigentlich sind nur die Schädlinge, die zu bekämpfen sind, echt deutsch.“
Einmal von der deutschen Steinwolle abgesehen, auf der die Tomaten wachsen – das konnte er, zu seiner Erleichterung, später noch hinzuzufügen. Ja, es gibt EU-Herkunft-Richtlinien, aber die sind bei einer solchen fundamental-philosophischen Frage nicht wirklich hilfreich. Dies ist nur eine der vielen Absurditäten in der Frischnahrungswelt: Alle reden von ihren, zumeist wunderbaren, nationalen Tomaten, auch wenn weder „Blut“ (Samen) noch „Boden“ (Substratpackungen) aus dem Land stammen.
Niederländer sind in der Hinsicht pragmatisch. Auch wenn ein Drittel bis die Hälfte der weltweit verwendeten Tomatensamen in Holland veredelt, also hergestellt worden ist, gönnt man allen Staaten ihren landeseigenen Tomaten. Früher in ihren Kolonien haben die Niederländer ja gelernt, dass es profitabel ist, so zu tun, als ob der Dorfnomenklatura das Sagen hat, statt sie selbst.
Gibt’s für die fehlerhafte Blut-und Boden-Theorie was Besseres? Wird die Identität der Tomate vielleicht vom Himmel bestimmt, unter dem sie wächst? Oder von der Nahrung, die ihr über Nabelschnur zugedient wird? Und sind nicht gar die Tomaten in den holländischen Gewächshäusern wenigstens teilweise polnisch geworden, weil sie ihren Reifegrad nur durch die liebevollen Hege und Pflege der vielen Polen, die dort arbeiten, erreichen konnten?
Das europäische Tomatenbusiness pfeift auf Grenzen – gerade das macht seinen Erfolg aus. Und auch die meisten der betroffenen Professionals haben lernen müssen, über Grenzen zu blicken. Aber sind nicht wir alle längst zu europäischen Staatsbürgern und somit Verbrauchern geworden, im Osten wie im Westen? Geschäfte schaffen es mühelos, die alte ideologische Mauer zu durchbrechen. Das hat man allerdings nun wieder in Deutschland besser verstanden als in den Niederlanden, wo zurzeit ein recht euroskeptischer Ton herrscht. Warum erklären die niederländischen Politiker uns nicht, dass „wir“, genau wie in „unserem goldenen siebzehnten Jahrhundert“, fast den ganzen Reichtum dem ausländischen Handel zu verdanken haben? Wo wäre die holländische Tomate ohne Europa?!
Textredaktion: Ute Schürings
Annemieke Hendriks lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin in Berlin und Amsterdam. Von April bis Juni 2013 war sie Milena Jesenská Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, wo Teile ihres Buchs "Tomaten. Die wahre Identität unseres Frischgemüses, eine Reportage" entstanden sind.