Die Geburt der Vielfalt
oder: Bilder von 100 neuen Stachelbeersorten, die ich aus Samen gezogen habe.
Ich hatte einst einen Stachelbeerstrauch im Garten. Jetzt sind es ungefähr 150 Sträucher.
Das sind 150 Stachelbeersorten; denn jeder Strauch ist aus einem Samen erwachsen. Ich habe also keine Kopien von 150, schon anderswo vorhandenen Büschen gesammelt, sondern völlig neue, einzigartige Stachelbeersorten in meinem Garten.
49 dieser neuen Sorten haben in diesem Jahr schon (ein paar) Früchte getragen.
Am 19. Juli war die Ernte abgeschlossen, so dass ich anschließend die Beeren eines jeden Strauchs fotografieren konnte und sie Euch nun in einer Bildergalerie präsentieren kann. Für diese Augenweide müsst Ihr nur bis nach unten springen…
Ich werde die Galerie jährlich um die Varianten ergänzen, die neu Früchte tragen (2022 umfasst sie 58 Bilder).
Ihr könnt beim Anblick der Stachelbeerfrüchte erahnen, wie viele verschiedene Stachelbeeren es wieder geben könnte, wenn wieder mehr Menschen Stachelbeeren aus Samen ziehen würden, wenn sich wieder mehr Liebhaber:innen am Zuchtwerk beteiligen würden – und nicht nur Kreise, die Stachelbeeren gewerbsmäßig züchten und anbauen.
Betriebe, die vom Stachelbeerverkauf leben wollen, müssen maximalen Ertrag, perfektes Erscheinungsbild, gute Transport- und Lagerfähigkeit sowie leichte Pflückbarkeit (heute vor allem mit Maschinen) an die erste Stelle ihrer Auswahlkriterien setzen.
Das schränkt die Sortenzahl und die genetische Vielfalt unseres (Beeren)Obstes seit über 150 Jahren erheblich ein.
Liebhaber:innen können jedoch Eigenschaften und Merkmale von Stachelbeeren bevorzugen, die für gewerbliche Anbauer:innen keinen Wert haben oder sogar hinderlich sind.
Das würde die Stachelbeersorten und ihre genetische Variabilität wieder erheblich vermehren.
Ich habe die Sache mit der Sämlingsaufzucht vor Jahren nicht mit diesem Ziel begonnen sondern nur, weil ich wissen wollte, was aus einem Stachelbeersämling wird. Ich wollte einfach die Probe aufs Exempel machen; denn häufig wird auf die Frage, ob man Stachelbeeren über Samen vermehren könne, reflexartig geantwortet, das ginge nicht oder das würde nichts, Stachelbeeren könnten nur über Ableger bzw. Stecklinge vermehrt werden.
Tja, jetzt bin ich klüger. Ehrlich gesagt, hätte ich mit einer derartigen Vielfalt an Stachelbeeren, die nur von einem einzigen Busch abstammen, niemals gerechnet (klar, die Insekten haben sicher auch ein paar Gene von Stachelbeersträuchern aus Nachbargärten eingekreuzt); aber es hat mir gezeigt, dass nur die Praxis zeigen kann, was wirklich möglich ist – und dass man sich nicht auf ein tradiertes Vorurteil verlassen kann.
Vielleicht kann die Bildergalerie unten ein paar Besitzer:innen größerer Gärten ermuntern, meinem Beispiel nachzueifern und ebenfalls möglichst viele Stachelbeersämlinge aufzuziehen.
Ein paar Überraschungsbüsche passen aber auch in kleine Gärten.
So kann wieder Vielfalt wachsen…
Stachelbeersorten ohne Namen kaufen
Was machen aber diejenigen, die lieber ein paar Sämlingsstachelbeersträucher kaufen würden, weil sie die Ungewissheit nicht ertragen wollen, die mit der eigenen Anzucht von Sämlingen zwangsläufig verbunden ist? Denn bei Sämlingen weiß man nicht im Voraus, welche Art Büsche und Früchte man bekommt.
Wenn ich mit diesem Beitrag ein paar Baumschulbesitzer:innen animieren könnte, Sämlinge aufzuziehen, damit sie Stachelbeerliebhaber:innen eine größere Auswahl an Stachelbeersträuchern anzubieten hätten, wäre das Problem doch gelöst, oder?
Ich könnte das auch selbst tun, klar.
Das Internet macht es ja heute möglich, auf einfache Art ein breites Angebot zu präsentieren und den notwendigen Kundenkreis zu erreichen; in diesem Fall könnte man sich gewünschte Sorten sogar auf Bestellung vermehren lassen.
Aber nein, so einfach geht das nicht!
Jede Sorte eines solchen vielfältigen, lebendigen Angebots müsste ein Schild mit der Aufschrift tragen „Ich bin illegal!“; denn diese Sämlinge sind nicht in der amtlichen Gesamtliste der Obstsorten verzeichnet, in der alle Obstsorten aufgeführt sein müssen, „deren Vermehrungsmaterial in Deutschland vertriebsfähig ist“, wie es so schön amtsdeutsch heißt.
13.000 Obstsorten werden in dieser Liste aufgezählt.
13.000.
Das klingt gewaltig; aber die überwiegende Mehrzahl der dort aufgeführten Sorten ist längst ausgestorben.
Alleiniges Kriterium für die so genannte Vertriebsfähigkeit von „Stachelbeermaterial“ ist nämlich, dass „zu der Sorte eine amtliche oder amtlich anerkannte Beschreibung vorliegt.“
Stachelbeeren ohne Namen und ohne Sortenbeschreibung dürfen nicht gewerblich angeboten werden! Sorten müssen mausetot sein, damit sie verkauft werden dürfen.
Das ist verrückt, oder?
Ja, ich übertreibe. Ein wenig.
Wie so der genetischen Vielfalt auf die Sprünge geholfen werden soll, ist mir ein Rätsel.
Die Saat- und Pflanzgutverkehrsgesetzgebung war und ist tödlich für sie.
Ich will hier nur den amtlichen Irrsinn ein wenig lächerlich machen, der glaubt, mit ein paar Korrekturen an einer Gesetzgebung, die zur Bereinigung der (Sorten)Vielfalt erlassen wurde, auch das Gegenteil bewirken zu können, nämlich die früher einmal vorhandene Individuen-Vielfalt der Nutzpflanzen wiederherzustellen.
Die genetische Vielfalt braucht ein völlig anderes, neues! gesetzliches Instrumentarium…
Stachelbeervielfalt als reines Hirngespinst
Ich stelle Euch meine Stachelbeeren hier vor, damit Ihr sie Euch vorstellen könnt; wenigstens das.
Ich kann mit meiner Sämlingsaufzucht und der folgenden Fotogalerie nur beispielhaft zeigen, dass neue Stachelbeervielfalt ohne Probleme möglich ist. Man muss nicht in den letzten Winkel kriechen, um dort noch Relikte vergangener Zeiten zu finden, um sie mühsam und kostspielig zu „erhalten“.
Es spricht nichts dagegen, das zu tun; aber auch diese „Vielfaltsreste“ müssen wiederbelebt, müssen in Gebrauch genommen werden, müssen in den genetischen Pool einfließen, aus dem ständig neue Vielfalt entspringt.
Nur lebende Vielfalt hat das Zeug, heute und morgen nützlich zu sein und eines Tages der Menschheit vielleicht das Überleben zu sichern; lebende Vielfalt ist aber solche, die wächst und sich ständig vermehrt, die sich unter Alltagsbedingungen bewährt und überall zu finden ist, nicht ein paar tief vergrabene, tiefgefrorene oder gut konservierte Samen- und Gewebereste aus der Vergangenheit.
Lebende Wesen nur als Gen-Material zu sehen, als genetische Ressourcen, und sie entsprechend zu behandeln, kann nicht der richtige Ansatz sein.
Stachelbeervielfalt zum Anfassen
Ich verzichte auf eine ausführliche oder blumige Beschreibung der Büsche und der Beeren, wie sie in den neuen und älteren Stachelbeermonographien sowie Verkaufskatalogen üblich ist und war. Nur in Einzelfällen erwähne ich unter den Bildern die Wuchsform der Sämlinge, ihre Fruchtbarkeit, ihre Beliebtheit bei Stachelbeerblattwespen, ihre Anfälligkeit für die Reize des Amerikanischen Stachelbeermehltaus und ähnliche Dinge, die natürlich auch für reine Liebhaber:innen von Interesse sind.
Zum Geschmack der Beeren mache ich überhaupt keine Angaben; nur so viel: Keine Sorte ist mir bisher außergewöhnlich aufgefallen, weder negativ noch positiv. Es gab Unterschiede, aber keine gravierenden.
Ich gebe Euch also nur wenig Konkretes an die Hand, das Euch von der Echtheit meiner vielen Sorten überzeugen könnte; Ihr müsst mir (und den Bildern) einfach glauben, dass sie tatsächlich existieren.
Aber ihr dürft jederzeit in meinen Garten kommen und Büsche und Beeren dort berühren, um Euch von der Wahrheit meiner Worte zu überzeugen.
Ich darf Euch Ableger meiner Büsche schenken, nur verkaufen darf ich sie Euch nicht; aber wozu auch: Ihr könnt selbst Stachelbeersamen in die Erde streuen!
Nur damit Ihr es wisst: Stachelbeerfrüchte – in ihnen ruhen die kostbaren Samen – dürfen auch namenlos verkauft und weitergegeben werden (Ihr könnt mich jederzeit anfragen). Die Beeren könnt Ihr dann einfach an einer unkrautfreien Stelle in die Erde matschen – zerdrücken und mit Erde mischen – und feucht halten. Die Samen dürfen niemals richtig austrocknen (man kann die Samen also nicht reinigen und über den Winter lagern, wie z. B. Tomatensamen); denn dann keimen sie bestenfalls noch mit großem Extra-Aufwand.
Jetzt aber genug lamentiert, jetzt…
Auf die Weide, ihr Augen!
Jetzt gibts nur noch eins: Bilder, Bilder, Bilder; denn auch die können ja bekanntlich ein wenig Anschauung vermitteln (die Nummerierung ist leider nicht in jedem Fall mit der im Beitrag „Stachelbeeren aus Samen“ identisch, da ich die „richtige“ Bezifferung erst in diesem Frühjahr vorgenommen habe).
Hallo Jürgen,
ich schreibe meinen Fund hier öffenlich, um Leser auch zu animieren mit offenen Augen durch die Landschaft zu spazieren… wenn ich nicht sensibilisiert wäre auf Stachelbeeren, hätte ich das wilde Büschlein vermutlich gar nicht entdeckt. Leider keinen Fotoapperat dabei gehabt… am Rande eines Wäldchens eine wildlebende Stachelbeere… sah nicht ganz glücklich aus, hatte wohl schon feuchtere Zeiten erlebt. Ein einziges Früchtchen hing dran, die Größe einer Johannisbeere, gelb-grün, ich dachte erst, die ist nicht reif und wird noch rot. Zart betastet – sie war schon weich….gepflückt, 6 Kerne herausgedrückt und in ein feuchtes Tempo für zuhause auszusäen ( daheim nur noch 4 gefunden…) weil ich unbedingt das Füchtchen kosten wollte. Es schmeckte süß und eindeutig stachelbeerig. Dann beraubte ich ihr noch ein Ästchen, dass ich in 4 Stückchen schnitt und auch in das feuchte Tempo packte und nun stehen diese amputierten Stecken unter Tütentreibhaus auf der Fensterbank… bin sehr gespannt, ob das was wird… es geht ja nicht um den Ertrag, sondern solch ursprüngliches Gewächs zu pflegen und eventuell auch über die Bienen-Blümchenschiene in meine beginnende Stachelbeerzucht einfließen zu lassen…achja und hab bei LIDL eine Schale roter Stachelbeeren gekauft um ca 3 Stück schonmal in Erde zu matschen und vom Hinömäkibusch hab ich auch 2 Beeren unter eine junge Kiwi gesät, weils da feucht ist und unkrautfrei :-)
Liebe Alexandra,
danke für Deinen Bericht! Ja, wenn mensch für bestimmte Signale sensibilisiert ist, empfangen seine Antennen die entsprechenden Signale besser…
Ob Du nun eine Wild-Stachelbeere entdeckt hast oder „nur“ eine verwilderte (ich habe auch schon hier und dort Stachelbeergebüsche in Wäldern entdeckt), ist letztlich nicht so wichtig; wichtig ist die Vermehrung der genetischen Vielfalt, dass wieder Hunderte von unterschiedlichen Stachelbeeren in unseren Gärten wachsen – und nicht nur drei Hinnonmäki-Sorten…
Ich hoffe, Deiner Vermehrung ist Erfolg beschieden und Dein Fundstück kann zu Deinem zukünftigen Stachelbeerreichtum beitragen.
Die ersten Gene meines Beitrags werde ich in den kommenden zwei Wochen an Dich absenden; langsam werden die meisten Stachelbeeren reif…
Viele Grüße
J:)
Hallo Jürgen,
ich bin so hin und weg von Deiner reichen Früchtespende…. dass es so unterschiedliche Formen und Farben unter den Stachelbeeren gibt, mit Borsten, ohne und dann diese orangenen Früchte… habe sie teilweise auch gekostet, die Überreife macht sie zu idealen Samenspendern…. nun muss ich noch Beete herrichten für die edlen Gewächse, davon teilweise in Mörtelwannen, die sind einfach praktisch… ich werde auf jeden Fall auf Trockenheitsverträglichkeit (und Hitze/Sonneneinstrahlung selektieren)…Von den wilden Steckligen treiben 2 schön aus, letzten Sonntag haben wir nochmal 3 wilde Büsche weit weg in der Pampa passiert, einer trug rot und alle nun ein Zweiglein weniger….Stachelbeeren heißen bei uns hier „Druschele“ und ein Neckwort ist „Du alte Druschel“ :-)
Hallo Alexandra,
der Transport ging ja bedeutend schneller als erwartet: Gestern nachmittag aufgegeben, heute schon bei Dir! Alle Achtung, Deutsche Post!
Dann hoffe ich mal auf große Erfolge Deiner Sämlingsanzucht und auch Deiner geplanten Stachelbeerzüchtung – und auf regelmäßige Berichte über beides hier…
Viele Grüße
J:)
Lieber Stachelbeerfreund,
im Frühjahr habe ich mir in Lockdown-Zeiten im Versandhandel 2 alte, englische Stachelbeersorten bestellt. Im Sommer konnte ich dann von einem der Büsche zwei Beeren naschen. Ich war wirklich überrascht. Ganz anders und viel besser als erwartet – wie die dunklen Campina-Bonbons! Seitdem will ich Stachelbeeren züchten. Ab kommendem Jahr werde ich nicht nur naschen, sondern auch aussäen. Auf der Suche nach Tipps zur Stachelbeerzucht ist dieser Blog mein einziger Treffer. Ich bin darüber sehr glücklich und nun mindestens doppelt so motiviert und inspiriert. Gerne schicke ich Dir auch Samen zu.
Viele Grüße von Stefanie
Liebe Stefanie,
ich habe das Gefühl, dass ich Zur Zeit noch ziemlich allein auf weiter Flur mit dieser „Schnapsidee“ bin, Stachelbeeren aus Samen zu vermehren; aber Dein Kommentar macht mir Hoffnung, dass das nicht so bleiben wird.
Danke dafür!
Ich würde mich über ein paar Beeren Deiner englischen Büsche mächtig freuen.
Haben sie Sortennamen? Es interessiert mich, welche Sorten heutzutage noch so vertrieben werden – und von wem?
Liebe Grüße von Stachelbeerfreund zu Stachelbeerfreundin
Jürgen
Lieber Stachelbeerfreund Jürgen,
meine Stachelbeer-Sorten heißen „Red Bottle“ und „Golden Teardrop“. Es war die Sorte „Red Bottle“ die mich so schwer begeistert hat. Bestellt habe ich sie hier: https://deaflora.de/Shop/Stachelbeeren/ . Ich denke, ich brauche noch mehr Stachelbeersorten. Mache mir Gedanken über den Bau einer zweiten Ebene im Garten – wegen der hoffentlich zahlreich keimenden Stachelbeere-Babys. Habe ein hilfreiches, interessantes Buch in der Bibliothek gefunden: „Lambert Müllers Beerenobst“, ein Lehrbuch von 1936. Der Autor schätzt die Zahl der im deutschen Baumschulhandel damals gehandelten Sorten auf annähernd 5000!
Auf bessere Zeiten nicht nur für die Stachelbeere hofft
Stachelbeerfreundin Stefanie
Liebe Stefanie,
danke für die Auskünfte! Habe mir das Buch gleich mal besorgt…um es zu meinen vielen anderen Beerenobst-Büchern zu legen, die ich sammele, so wie Deaflora (anscheinend) Pflanzen sammelt (diese Gärtnerei habe ich schon sehr früh entdeckt, als ich noch nach Erdbeersorten gefahndet habe; aber sie ist mir irgendwie suspekt, weil sie einfach zu viel anbietet).
Ich bin mir sicher, dass die genetische Vielfalt wieder entsteht…
Liebe Grüße
J:)
Liebe Stefanie,
der Geschmack der „Red Bottle“ hört sich sehr faszinierend an!
Leider bin ich wohl zu spät dran und kann weder im Deaflora-Shop noch sonstwo im Internet Informationen geschweige denn Kaufoptionen finden.
Gibt es vielleicht die Möglichkeit einen Ableger zu erhalten?
Herzliche Grüße
Heinke
Interessant zu sehen, was da für eine Vielfalt entsteht! Muss mir auch mal ein paar aussäen und schauen ob die in unserem Klima überhaupt gedeihen…
Danke für den tollen Artikel!
Hallo Reto, danke für Kommentar und Lob!
Wo lebst Du, dass die Gefahr besteht, Stachelbeeren könnten dort nicht gedeihen?
Viele Grüße
Jürgen