Erntedank

oder: Warum die Welt zwei neue Feiertage braucht.

In diesem Jahr war es ein stiller, diesiger, feuchter Tag, der mir etwas mehr Zeit gab, bei der Gartenarbeit auszuruhen und nachzudenken, der mir Raum für Erinnerungen, Gedanken und Gefühle ließ. In diesem Jahr war es der 31. Oktober.

Der 31. Oktober 2020: Blick zurück in den Vorgarten

Die Ideen und Pläne für das kommende Jahr drängten zwar schon machtvoll aus allen Hirnwinkeln; aber ich gebot ihnen Einhalt. Ich wollte erst noch ein wenig zurück blicken und für all die wunderbaren Dinge danken, die in meinem Garten (wieder) gewachsen sind.

Zu leicht gehen das Erinnern, Innehalten und Danksagen, das Bewusstsein dafür, dass nicht alles selbstverständlich ist und in unserer Macht liegt, im Rauschen des Alltags, im stetigen Ticken der Uhren, im ständigen Schaffenmüssen unter.

25. Oktober: Die Folie des Tunnels wird niedergeholt

Kurze Erinnerungen an ein fernes Erntedankfest

Am letzten Wochenende habe ich an meinen Lieblingsplätzen gesessen und eine tiefe Dankbarkeit gespürt für dieses weitere, schöne Jahr. Als ich die Bilder für diesen Beitrag ausgesucht habe, lief es noch einmal in Zeitlupe vor mir ab; das war intensiv. Ich hoffe, meine Auswahl lässt Euch ein wenig daran teilhaben (einige Bilder sind ein Vorgeschmack auf folgende, ausführliche Berichte).

25. Oktober: Die letzten Tomaten – unreif und grün (aber lecker)

Zwischendurch erinnerte ich mich an ein Erntedankfest, das meine Eltern einmal auf dem Hof gefeiert haben. Es waren alle Menschen da, die übers Jahr geholfen hatten, und es herrschte eine fröhliche und ausgelassene Stimmung.

Obwohl ich damals ein Jugendlicher war, hat es mir gefallen. Es blieb aber das einzige Erntedankfest, das ich erlebt habe; danach gab es keines mehr.

Vermutliche Gründe, warum es heute keine Erntedankfeste mehr gibt

Ich fragte mich, warum es diese Feste dann nicht mehr gab und warum sie heute nicht mehr gefeiert werden (es sei denn als Werbeveranstaltungen von Tourismusverbänden)?

Ich denke, dass es daran liegt, dass die Landwirtschaft industriell geworden ist und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen betrieben wird. Eine Landwirtschaft, die außerdem heute hauptsächlich von ein paar Menschen mit riesigen Maschinen und morgen nur noch von Maschinen betrieben wird, kann ein solches Fest nicht mehr feiern.

Wie auch? Sollte der Agrartechniker mit den Maschinen tanzen?

18. Oktober: Vorletzte Kartoffelernte; die große Kartoffelschau fällt in diesem Jahr klein aus

18. Oktober: Ein Häufchen der Möhren, die sich beim Möhrenmehren selbst ausgesät haben

Fabriken sind Ausdruck menschlicher Überlegenheit über „die Natur“. Dankbarkeit für „Gaben der Natur“ ist der industriellen Fabrikation fremd. Sie ist ein Fleischwolf, durch den „Rohstoffe“ gedreht werden.

Nur wer das Wachsen erlebt und beobachtet, kann auch ein Gefühl für das Ernten bekommen.

Allseitiger Wettbewerb verlangt maximale Effizienz, stetiges, andauerndes Schaffen. So lange (existenzielle) Konkurrenz herrscht, darf niemand einen Augenblick verweilen, die Konkurrenten (oder die Räuber) könnten einen überholen, verdrängen, verschlucken; das hält alle Beteiligten in dauernder Anspannung.

Da bleibt keine Zeit für Freude über Geschafftes und Geschaffenes.

18. August: …und werden im Trockenraum für die Winterlagerung vorbereitet.

Trotzdem leben wir alle von Gewachsenem und Gewordenem, auch wenn wir es nicht mehr erleben.

Ich denke, dass es erst dann (wieder) Ruhepausen, entspannten Genuss des Gewachsenen und Geschaffenen, so etwas wie ein Bewusstsein von Dankbarkeit für „Geschenke der Natur“ geben kann, wenn es keine Konkurrenz mehr gibt, wenn die Welt einig ist.

Die Welt wird eins, da bin ich mir sicher. Die technischen Möglichkeiten dafür nehmen ständig zu. Der weltweite Handel, die weltweiten, gemeinschaftlichen Aktivitäten gegen die Klima-Änderungen und die Corona-Pandemie sind für mich zarte Anzeichen für das Zusammenrücken der Menschheit (Sport, Wissenschaft und internationale Konzerne muss ich in diesem Zusammenhang gar nicht mehr erwähnen).

17. Oktober: Ein Fähnlein im Wind

26. September: Andere ernten, was sie nicht gesät haben…

8. Oktober: …aber einige Kolben meines „schwarzen“ Zuckermaises konnte ich den Nagetieren noch entreißen

Leider geschieht letzteres (wieder) zu sehr unter dem Einfluss der Angst(mache) und folgt nicht der Erkenntnis, dass Gedankenaustausch, Interessenausgleich und gemeinsames Handeln der Menschheit sinnvoller, gewinnbringender und nachhaltiger, mit einem Wort: zukunftsträchtiger ist. Noch ist das Denken in „Kleingruppen“ (Familie, Sippe, Stamm, Volk, Rasse, Glaubensgemeinschaft) zu ausgeprägt und zu weit verbreitet.

Eine Welt, zwei Erntedanktage

Die folgende Idee kam mir nicht am vergangenen Wochenende, sondern schon ein paar Tage zuvor: Alle fortschrittlichen, weitsichtigen Menschen sollten eine gemeinsame Kampagne starten für zwei Feiertage des Erntedanks, einen auf der Nord- und einen auf der Südhalbkugel; in jedem Staat sollte dafür der Nationalfeiertag gestrichen werden.

Diese Kampagne könnte Bewusstsein über den Sinn von Dankbarkeit und Gemeinsamkeit vermitteln.

31. Juli: Streberbohnen nutzen das umgedrehte Baustellengitter als Himmelsleiter

14. Oktober: Ergebnis einer zufälligen Bohnenkreuzung (F2)

14. Oktober: Ist das meine neue, rote Stangenbohne?

Die Feiertage – wenn sie denn etabliert sind – könnten dafür genutzt werden, sich des eigenen Wohlstands bewusst zu werden, sich der Armut anderer zu erinnern, die Verhältnisse so zu ändern, dass alle Menschen gleichermaßen an den Gütern der Erde teilhaben können, dass gerechtes Teilen eine friedlichere Welt zur Folge hat als der stetige Kampf um die größten Stücke der Beute (die Räuber sind immer noch unter uns; aber sie sind – leider – zum Aussterben verurteilt).

An diesen Tagen könnten Veranstaltungen zu den vorgenannten Themen sowie internationale Feiern und Festessen stattfinden.

23. Juni: Hier wachsen die ersten selbst vermehrten Möhren

3. Oktober: Möhrenvielfalt am Tag der Einheit(lichkeit), meine Möhrenauswahl für die Vermehrung im kommenden Jahr

Ich finde, der Markt, der freie Austausch, der geregelte Wettbewerb sind ein Fortschritt gegenüber dem offenen Räubertum vergangener Tage; die internationale Marktwirtschaft wird die Welt einen.

Aber sie beruht immer noch auf Zwang; jede:r ist gezwungen, sich oder etwas zu verkaufen, im Konkurrenzkampf jede:r gegen jede:n zu bestehen.

Erst die verbreitete Einsicht in die Notwendigkeit bestimmter Tätigkeiten, der freie Diskurs über diese Notwendigkeiten, eine gemeinsame Planung sowie die freiwillige, weil auf Einsicht beruhende Tätigkeit der Mehrheit der Menschen setzt die nächste, vielleicht die höchste Stufe der menschlichen Produktivität frei.

30. Juli: Vorne im Tunnel stehen ein paar Reihen mit Paprikapflanzen

14. Oktober: Ein paar Früchte meiner wenigen, süßen Paprikapflanzen aus eigenem Saatgut

5. November: Die meisten Pflanzen trugen scharfe Paprika-Früchtchen, auch Chili genannt, aus getauschtem Saatgut

Manche Menschen (ich z. B.) brauchen Utopien. Nur wer das Unmögliche denkt, kann das Mögliche erreichen, habe ich mal irgendwo gelesen.
Oder haben Marx und Engels recht – und die Entwicklung schreitet (mit der technologischen Entwicklung) gesetzmäßig vom Kapitalismus zum Kommunismus voran?

Natürlich nicht ohne unser Zutun; deshalb schreibe ich hier…

24. Juli: Die letzjährig verkreuzten Zukkinisamen durften zeigen, was in ihnen steckt

12. Juli: Stillleben mit Zukkini (würde ich es nennen)

24. August: Zwei goldene Zukkini-Kreuzungen

Erntedank und Geschichte

Das waren meine Gedanken am 31. Oktober in meinem weltabgeschiedenen Garten.

Als ich sie jedoch (mit einem gewissen Stolz) einem anderen Menschen mitteilte, musste ich hören: „Wie kannst Du dieses christliche Fest nur der ganzen Welt überhelfen wollen!“

„Nein, nein“ entgegnete ich selbstsicher, „Erntedank ist kein christlicher Brauch, es ist ein allgemein verbreiteter Brauch, der früher in allen Ackerbau-Kulturen der Welt gefeiert wurde und der deshalb auch in Zukunft die Menschheit verbinden kann!“

15. Juni: Nach den Radieschen die nächste Ernte – Erdbeeren, Rhabarber und Grüne Stachelbeeren

Mein Gegenüber gab sich mit dieser Erklärung zufrieden; aber in mir war der Keim des Zweifels gelegt.

Darüber bin ich nun wirklich froh; denn wie hätte ich dagestanden, wenn jemand in den Kommentaren geschrieben hätte: „Weißt Du nicht, dass die Nazis ein Reichserntedankfest gesetzlich festgelegt und damit versucht haben, „eine germanisch durchtränkte Festkultur im Gegensatz zur christlichen Religion zu etablieren“? wie Philipp Beyhl in seiner theologischen Doktorarbeit „Erntedank – ein mögliches Fest“ schreibt, die sich ausführlich mit den Schwierigkeiten beschäftigt, die die christlichen Kirchen mit diesem Fest haben.

Detlef Korsen singt das Erntedanklied „Wir pflügen und wir streuen“ (1783) in der evangelischen Kirche zu Brinkum (2016)

Ja, das Erntedankfest hat nicht nur jene kurze unselige, sondern auch eine lange christliche Tradition, obwohl das Christentum diesen vorchristlichen, agrarischen Brauch nie richtig integrieren konnte, im Gegensatz zur Feier der Wintersonnenwende (Weihnachten, Geburt des Jesus Christus) oder zu den Fruchtbarkeitsriten im Frühjahr (Ostern, seine Auferstehung).

In der vorgenannten Dissertation erfährt man übrigens auch eine Menge über Geschichte, Entwicklung und Bedeutung des „Thanksgiving-Day“, dem heute national gefärbten Erntedanktag der USA, der jedoch christliche Wurzeln hat.

4. Juli: Ordentliche Himbeerernte; auch von Sämlingen sind Früchte dabei (2. von links)

16. August: Die ersten Früchte eines Reneklodensämlings

Neue, gute, selbst aus Apfelkern gezogene Apfel“sorte“ (zwei andere „Sorten“ sind weniger gut)

„Meine“ Feiertage sollen auch mitnichten eine ideologische, sondern ausschließlich eine politische Ausrichtung zur Einigung der Menschheit haben; obwohl mir der bewusstseinsbildende Aspekt, den ich oben versucht habe deutlich zu machen, ebenso wichtig ist: So großartig wir rational-aufgeklärten Menschen sind, so großartig unsere technischen und wissenschaftlichen Leistungen sind, über uns steht eine „Höhere Macht“ (nein, kein Menschengott oder Gott-Mensch!), der auch wir ausgeliefert bleiben werden und die uns manchmal ein wenig an Dankbarkeit und Demut gemahnen sollte.

Ich fände es schön, wenn der ursprüngliche Sinn der Ernte(dank)feste (Freude, Dankbarkeit, Teilhabe aller) wiederhergestellt und vom Brimborium der Religionsverwalter und Marketing-Abteilungen befreit werden könnte; vielleicht wäre auch hier die Verbindung der Vergangenheit mit der Zukunft möglich und ein Kreis zu schließen.

Wie dem auch sei: Ich plädiere dafür, den 31. März und den 31. Oktober (christlicher Zeitrechnung) als Erntedanktage der Menschheit zu propagieren.
Was ich hiermit tue…

14. Juni: Ein köstliches Gläschen kurz vor dem Höhepunkt des Jahres, der Sommersonnenwende. Auf ein Neues!