Goodbye Kartoffelsorten!

oder: Sei gegrüßt Kartoffelvielfalt!

Den Foto-Bericht über meinen diesjährigen Kartoffelanbau bei meinem Bruder verbinde ich mit Überlegungen, wie ich eine größere genetische Vielfalt der Kartoffeln in meinem Garten erhalten kann, ohne 120 Kartoffelsorten fein säuberlich getrennt anbauen zu müssen; denn wie ich schon des öfteren erwähnt habe, sehe ich den wichtigsten (Neben)Effekt der Hobby-Gärtnerei (und auch der Bio-Landwirtschaft) darin, die genetische Vielfalt unserer Nutzpflanzen maximal zu fördern – und dann zu erhalten.

Die genetische Vielfalt (der Nutzpflanzen) ist ein Wert für die Allgemeinheit, für die gesamte Menschheit, von der möglicherweise sogar einmal unser Überleben abhängen kann; sie sollte deshalb mehr in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken.

Sonnenaufgang über der Warburger Börde

6. Mai, 5:10 Uhr. Am Pflanztag trifft Spätfrost die Warburger Börde – und meine Pflanzkartoffeln

Wie ich meine 120 Kartoffelsorten abschaffe und gleichzeitig eine unbegrenzte Kartoffelvielfalt in meinem Garten kultiviere, über diesen scheinbaren Widerspruch kläre ich in diesem Beitrag auf.

Sorten begrenzen die genetische Vielfalt

Ich habe in „Sorten erhalten war gestern“ schon aufgezeigt, dass „Sorten“ die genetische Vielfalt (stark) begrenzen: Sorten sollen genetisch möglichst einheitlich sein, damit die Eigenschaften aller Exemplare möglichst einheitlich und damit verlässlich sind. F1-Hybride und die Nachkommen bei allen Arten, die vegetativ (durch Teile der Pflanze) vermehrt werden, sind sogar zu 100 Prozent identisch (oder sollten dies zumindest sein).

Aus diesem Grund kann man heute (etwas verallgemeinernd) sagen, dass bei Nutzpflanzen die genetische Vielfalt innerhalb einer Art ungefähr mit der Anzahl der Sorten identisch ist, die genutzt bzw. „erhalten“ werden.

Mein Bild in der Zeitung Westfalen-Blatt

Vorschau: Meine (Kartoffel)Nase im Lokalteil des „Westfalen-Blatt“

Das mag mancheinem bei ca. 5000 Sorten, die es z. B. bei Tomaten und Kartoffeln gibt, ziemlich viel erscheinen; aber wenn man bedenkt, dass sich z. B. bei den allermeisten wild lebenden Pflanzen jedes Individuum genetisch von jedem anderen unterscheidet, kommt man bei diesen leicht auf eine unzählbare genetische Vielfalt.

Diese Vielfalt ermöglicht es z. B. Schaderreger-Arten, sich leicht an neue Verhältnisse anzupassen: Es sind zumeist ein paar Individuen in dieser riesigen Anzahl vorhanden, die mit veränderten Bedingungen zurechtkommen und sich wieder vermehren können. Ich habe den Zusammenhang von genetischer Vielfalt und Anpassung an veränderte Verhältnisse im Beitrag „Wettlauf zwischen Hase und Igel“ beschrieben.

Kartoffelsorte Rote Hörner

Vorschau auf die Ernte: Eine sehr ungewöhnliche Kartoffelsorte, „Rote Hörner“ genannt

Diese Erkenntnis möchte ich in Zukunft auch auf meinen Kartoffelanbau übertragen; bei Zwiebeln, Möhren und anderen Kulturen bin ich da schon weiter.

Verschiedene Kartoffelsorten, verschiedene Eigenschaften

Es gibt Kartoffelsorten, aus denen man wunderbar Kartoffelsalat machen kann; andere wiederum sind bestens für Kartoffelbrei oder Pommfrizz geeignet. Die einen sind festkochend, die anderen mehr mehlig/stärkehaltig; für verschiedene Gerichte werden aus diesem Grunde zumeist verschiedene Kartoffelsorten verwendet.

Die Kartoffelsorte Bell's Blue

Die besten Kartoffeln der Sorte „Bell’s Blue“, die der Bördeboden am 15. September freigab.

Kartoffelsorte Catriona

Die Sorte „Catriona“ hat in meinem Garten nicht viel gebracht; aber hier…

Nun sind aber nicht nur die Kocheigenschaften von Bedeutung; auch geschmacklich gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Sorten.

Außerdem habe ich festgestellt, dass manche Sorten bei Trockenheit hervorragenden Ertrag produzieren, während ihre Knollen in einem feuchten Jahr nahezu komplett im Boden verfaulen (die Sorte „Lipa“ z. B.); bei anderen Sorten ist es genau umgekehrt.

Kartoffelsorte Lipa

Eine Lieblingssorte: Die tschechische „Lipa“ ist bei trockenem Wetter super, bei nassem faul

Kartoffeln der Sorte Tysk Blå

Die Lieblingssorte „Tysk Blå“ habe ich eigenmächtig aus Schweden importiert

Daneben ist mir aufgefallen, dass Kartoffelkäfer manche Sorten bevorzugen und auch Braunfäulepilze ihre eigenen Vorlieben haben.

Um auf alle Fälle vorbereitet zu sein, ist es also von Vorteil, viele verschiedene Sorten im Garten zu haben.

120 Kartoffelsorten sind zu viel

Als ich 2012 meinen jetzigen Garten übernommen habe, besaß ich nur eine Kartoffelsorte, die ich aus Ruanda (Afrika) mitgebracht hatte. In den folgenden Jahren habe ich mir dann so viele Kartoffelsorten beschafft, wie ich nur bekommen konnte. Viele Sorten waren so genannte „alte“ Sorten, die ich zu Teilen aus der Kartoffel-Genbank in Groß-Lüsewitz bekommen oder von Spezial-Anbietern (Biohof Jeebel, Gündels Kulturstall, Vreeken’s Zaaden, Kartoffel-Müller) gekauft habe; andere waren Mitbringsel von Reisen oder Geschenke von Gärtnerkolleg:innen.

Mein ursprünglicher Gedanke war, eine möglichst große genetische Vielfalt zu sammeln, um aus deren Samen neue Sorten zu ziehen; ein paar neue „Sorten“ sind seitdem auch schon aus ihnen erwachsen.

Kartoffelsorte Pale Violett

Eine meiner Samenkartoffeln, die ich „Pale Violett“ genannt habe

Bis zum letzten Jahr hatte ich mir auf diese Weise über 120 Kartoffelsorten an Land gezogen.

Ich habe es nun auch mehrere Jahre hintereinander geschafft, sie nach Sorten getrennt zu überwintern und im nächsten Jahr wieder getrennt auszupflanzen.

Eigene Kartoffelsorte Purpurrot

„Purpurrot“ ist eine Kartoffel, die ich zufällig im letzten Jahr in meinem Garten gefunden habe

Mein Platz für den Kartoffelanbau ist aber begrenzt; ich kann auch nicht auf Dauer Kartoffeln immer wieder auf denselben Flächen anpflanzen, weil sich dann auch die „Krankheitserreger“ dort bestens vermehren.

120 Kisten mit Pflanzkartoffeln am Feldrand

Zurück auf Anfang, zum Pflanztag: Setzkartoffeln warten in 120 Kisten auf Bodenberührung…

Aus diesen Gründen habe ich im letzten Jahr ein „Sicherheitsbackup“ bei meinem Bruder deponiert, der einen konventionellen landwirtschaftlichen Betrieb bewirtschaftet. Obwohl er sie selbst zu „Werbezwecken“ ganz gut nutzen konnte, kann und will mein Bruder nicht den Sortenerhalter für mich spielen; denn dafür müsste er seinen Kartoffelanbau vollkommen anders (viel arbeitsaufwändiger) organisieren: Er müsste die Pflanzkartoffeln selbst nach Sorten getrennt lagern, sie vorkeimen lassen und dann mit entsprechender Legetechnik in den Boden bringen.

Dammfräse bereitet die Anbaufläche vor

Mein Bruder scheut keine Kosten und Mühen, meinen Kartoffeln ein Beet (im Kornfeld) zu bereiten

Er ist aber ein ernsthafter Landwirt, der von seiner Arbeit leben muss, und kein Spaßvogel wie ich, der nur ein Hobby pflegt.

Auch wäre ein solcher „Fern-Anbau“ keine dauerhafte Lösung für mein Sorten- und Platzproblem (beide nehmen ja ständig zu).

Ich muss mir also etwas anderes einfallen lassen, um möglichst viele, verschiedene Kartoffeln auf möglichst wenig Fläche unterzubringen.

Kartoffeln auf Dämmen ausgelegt

Normalerweise werden die Kartoffeln erst gelegt und dann gehäufelt, aber…

Kartoffeln auf Damm

…dieses Mal musste das umgekehrt gemacht werden: Erst die Dämme ziehen und die Kartoffeln darauf verteilen…

Kartoffeln im Damm vergraben

…dann alle Pflanzkartoffeln einzeln darin vergraben. Eine Quälerei…

Wie oben schon angedeutet, habe ich zum herrschenden Sortenkonzept mittlerweile ein gespaltenes Verhältnis: Sorten sind genetisch (möglichst) einheitlich und die Sortenzahl, die ich/jemand/die Genbank/die Landwirtschaft anbauen kann, ist begrenzt, womit auch die genetische Vielfalt der Kartoffeln begrenzt ist.

In einer möglichst großen, lebendigen, genetischen Vielfalt unserer Nutzpflanzen sehe ich aber eine Art Lebensversicherung der Menschheit; denn in der Vielfalt kann für jede Bedingung eine passende Variante vorhanden sein.

Kartoffeln in Dämmen vergraben

…die aber nach knapp zwei Tagen auch zuende ging…

Der Saatgut-Bunker auf Spitzbergen (und jede andere Genbank) ist dagegen nichts als eine Urne mit „totem“ (von keinen „echten“ Umweltverhältnissen geprüftem), genetischem Material, eine höchst gefährliche Illusion von gesicherter, genetischer Vielfalt, die auf einem mechanistischen Konzept von „Erhaltung“ beruht (das habe ich schon ausführlich in „Heilige Vielfaltigkeit“, „Sorten erhalten war gestern“ und „Hobby-Gärtnerinnen rettet die Menschheit!“ dargestellt).

Wie kann ich (aber auch jede andere, die es sich leisten kann) eine möglichst große, lebendige, genetische Vielfalt und eine begrenzte Anbaufläche unter einen Hut bringen?

Kartoffelvielfalt statt Kartoffelsortenvielfalt

Eine maximale genetische Vielfalt von Kartoffeln auf einer begrenzten Fläche erhalte ich, indem ich eine bestimmte Anzahl Pflanzkartoffeln von allen meinen Sorten zusammenwerfe und zwar so viele, wie ich insgesamt auf meiner Fläche ausbringen kann. Jedes Jahr ziehe ich dann vielleicht noch einige neue Kartoffeln aus Samen und werfe sie in diese Mischung.

Kartoffelfeld am 3. Juni

Leider gibt es danach nur am 3. Juni ein Bild aus der Wachstumsphase…

Ich brauche also nur 120 Kartoffelpflanzen, um 120 (namenlose) Sorten, 120 genetische Varianten in meinem Garten zu pflegen.

Mit den Jahren bleiben auf diese Weise nur die Kartoffeln übrig, die in meinem Garten (gesund) wachsen. Ich habe also eine maximale genetische Kartoffelvielfalt in meinem begrenzten Garten, die an meinen Garten und meine Anbauweise besonders gut angepasst ist.

Sonnenaufgang am 15. September über der Warburger Börde

…dann geht auch schon am 15. September um 5:48 Uhr die Sonne des Erntetages auf…

So wurde das jahrtausendelang bei allen Kulturpflanzen gehandhabt – so lange, bis die moderne Züchtung begann, die ertragreichsten aus den vorhandenen, genetisch vielfältigen Arten zu selektieren, sie in wenige, genetisch einheitliche „Sorten“ zu verwandeln und damit die genetische Vielfalt auf die heutige, begrenzte Sortenzahl einzudampfen.

Durch einen „sortenlosen“ Anbau könnte ich sogar noch mehr als 120 genetisch unterschiedliche Kartoffelvarianten erhalten.

Konventionelles Kartoffelfeld mit abgespritzem Kartoffelkraut

…und gestattet den Blick auf ein konventionelles Kartoffelfeld, auf dem das Kraut rechtzeitig abgetötet wurde.

Kartoffelsorten und Kartoffelnutzung

Nun sind ja bestimmte Kartoffelsorten, wie ich oben bereits erwähnt habe, mit bestimmten Nutzungszwecken verbunden. Wenn ich nur noch eine bunte Vielfalt an Kartoffeln im Garten habe, kann ich schwerlich Gerichte aus nur einer bestimmten Kartoffelsorte herstellen. Ich könnte immer nur eine bunte Mischung verwenden, so dass manche Speisen vielleicht nicht optimal gelingen würden.

Handernte mit der Kartoffelhacke

Ernte wie früher: Zuerst werden die Kartoffeln jeder Staude einzeln mit dem Karst ausgehackt…

Dieses Problem ist ohne Zweifel gegeben; doch ist die zuvor beschriebene Vorgehensweise selbstverständlich die extremste Umsetzung für eine maximale genetische Vielfalt: Zwischen maximaler genetischer Vielfalt und maximalem Ertrag einheitlicher Früchte ist jede Zwischenstufe möglich.

Sortenreine Kartoffelhäufchen

…und auf Häufchen gesammelt…

Außerdem lerne ich mit den Jahren sicher auch, die Kartoffeln zu erkennen, die bestimmte Kocheigenschaften besitzen; so sind z. B. alle länglichen Kartoffeln eher festkochend, alle runden eher mehlig-kochend. Eine solch grobe Einteilung reicht für meinen Hausgebrauch.

Die meisten Gerichte lassen sich ohnehin mit allen Kartoffeln gleich gut zubereiten; auch bei meinen genetisch bunt gemischten Zwiebeln stelle ich keine nenneswerten Unterschiede im Gebrauchswert fest.

Kartoffeln in gestapelten Gitterkistchen

…dann die guten ins Kistchen sortiert…

Und wer weiß: Vielleicht lernen erfinderische Köche unter diesen Bedingungen auch, neue, besondere Gerichte mit einer besonders großen Kartoffelvielfalt zu kreieren!

Sehr häufig ist die Vorliebe für bestimmte Gerichte und Nahrungsmittel auch reine Gewohnheitssache (die für gelb-fleischige Kartoffeln etwa); man muss oft nur eine kleine Schwelle überwinden, um sich mit neuen anzufreunden.

Kartoffelreste in großer Kiste

…und der (große) Rest in die Schweinebox geworfen.

Der goldene Mittelweg: Kartoffeltypengruppen

Nun will ich auch nicht gleich übertreiben; deshalb werde ich in diesem Jahr erst einmal fünf Typengruppen bilden. Ich werde jeweils alle Hörnchen-Kartoffeln, alle blau-/violett-/schwarz-schaligen Sorten, alle roten Kartoffeln, alle gefleckten und alle ocker-/gelb-schaligen Kartoffelsorten zusammenwerfen.

Mauseloch im Kartoffeldamm

Die Feldmäuse waren auch aktiv…

Die Fleischfarben werde ich nicht berücksichtigen; es ist für die meisten Gerichte unerheblich, welche Fleischfarbe die Kartoffeln haben. Manchmal werden die Gerichte dadurch etwas gräulich (durch violettes Kartoffelfleisch etwa, das beim Kochen hell-lila wird) oder blasser (durch weiß-fleischige Kartoffeln); aber das stört mich nicht, da der Geschmack dadurch nicht verändert wird (obwohl das Auge selbstverständlich mitisst).

Ich brauche also nur eine Kartoffelanbaufläche, auf der ich die fünf Typengruppen getrennt nebeneinander anpflanzen kann.

Mäusefrass an Kartoffeln

…und haben sich ihren Teil geholt; für sie war 2020 ein gutes Jahr…

So habe ich eine maximal bunte Kartoffelvielfalt, die mir geschmacklich und optisch alles bietet, was ich brauche – und die genetisch maximal unterschiedlich ist.

Ich rechne damit, dass ich durch diese maximale Vielfalt auch immer eine Ernte haben werde, allen Wetterunbilden und Schädlingskalamitäten zum Trotz; denn es werden immer Varianten dabei sein, die unter den jährlich wechselnden Bedingungen einen anständigen Ertrag liefern.

Rote Emmalie und Purpurrot aufgeschnitten

Zu Demonstrationszwecken konnten so auch ein paar Restekartoffeln zerschnitten werden.

Der Weg in die Zukunft

Ich mache es also in Zukunft so, wie es die Menschheit Jahrtausende gemacht hat, als es noch nicht darum ging, den maximalen Ertrag aus dem Boden zu holen, sondern vor allem einen maximal gesicherten.

Auch heute sollte es die Menschheit so halten: Die besten Flächen für einen (nachhaltigen) Maximalertrag nutzen, auf dem (großen) Rest eine maximale genetische Vielfalt sichern; d. h., auf den besten Böden ackern Agrartechniker:innen (oder demnächst Roboter) industriell, auf den Randlagen erhalten und vermehren Bio-Bäuer:innen, Markt- und Hobby-Gärtner:innen die genetische Vielfalt unserer Nutzpflanzen.

So sollte es sein; ich werde mal anfangen, dieses Konzept zu testen… …und es hiermit zu propagieren.

Mein Elternhaus

Geschafft!