Heilige Vielfaltigkeit

oder: Was ich über die Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt denke.

Über meine Bestrebungen, möglichst viele „alte“, vor Zeiten beliebte Erdbeersorten in meinem Garten zu (ver)sammeln, bin ich auf das Thema „Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt“ gestoßen. Aus dem harmlosen Vergnügen an der Vielfalt von Erdbeersorten wurde im Winter 2015/16 eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema.

Senga Sengana (12. Juni 2016)

Senga Sengana (alle Erdbeeren wurden am 12. Juni 2016 gepflückt)

Ich muss gestehen, dass ich bis zu jenem Zeitpunkt so gut wie nichts über Biologische Vielfalt („Biodiversität“) allgemein und Kultur- bzw. Nutzpflanzenvielfalt speziell gehört oder gelesen hatte.

Ich wusste weder, dass schon 1992 im Rahmen des legendären UN-„Umweltgipfels“ in Rio de Janeiro ein Internationales Abkommen zur Biodiversität geschlossen wurde, noch, dass 2004 der Internationale Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (IVPGREL, „Saatgutvertrag“, auf Englisch ITPGRFA – International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture) in Kraft getreten war (mit letzterem wurde ich allerdings konfrontiert, als ich ein paar Erdbeersorten aus der Genbank Obst in Dresden-Pillnitz beziehen wollte; dazu unten mehr).

Natürlich war mir auch das „Nationale Fachprogramm zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Nutzpflanzen“ der Bundesregierung von 2007 kein Begriff.

Es wurde mir jedoch klar, dass die Erhaltung der Vielfalt in den Jahren um 2010, dem von der UN proklamierten Jahr der Biologischen Vielfalt, einen breiteren Raum in der öffentlichen Diskussion eingenommen hatte, als mir bis dahin bewusst war (TA-Projekt „Gentechnik, Züchtung und Biodiversität”).

Königin Luise

Königin Luise

Um nun einen eigenen Standpunkt zu gewinnen und einige Dinge, die mir in diesem Zusammenhang (negativ) aufgefallen sind, genauer zu untersuchen, habe ich beschlossen, diesem Themenkomplex einen eigenen Beitrag zu widmen – und mich damit in die „Politik“, in die Regelungen unseres Gemeinwesens einzumischen. Weil ich aber in erster Linie Gärtner bin, konzentriere ich mich im folgenden auf die Vielfalt der Nutzpflanzen und die Bemühungen, diese zu erhalten.

Wenn ich nachfolgend von Nutzpflanzen schreibe, meine ich damit immer die ARTEN und SORTEN der Nutzpflanzen.

NutzpflanzenARTEN sind alle Pflanzen, die von Menschen über einen längeren Zeitraum angebaut, gepflegt, gezüchtet, mit einem Wort: kultiviert und genutzt werden (von A wie Apfel bis Z wie Zuckerrübe).

Unter NutzpflanzenSORTEN sind die unterschiedlichen, anhand bestimmter Merkmale unterscheidbaren Gruppen innerhalb einer NutzpflanzenART zu verstehen (eine NutzpflanzenART ist z. B. die Gartenerdbeere, welche wiederum anhand ihrer äußeren und inneren Merkmale in zahlreiche SORTEN unterteilt werden kann, wie Senga Sengana, Elsanta, Polka oder Malwina).

Ulrike von Solf

Ulrike von Solf

Anhand folgender Fragen will ich versuchen, meinen Text zu strukturieren, und damit auch Leser*innen, die von dieser Thematik noch unbeleckt sind, das Verständnis erleichtern:

  1. Was versteht man unter „Biologischer Vielfalt“ bzw. „Vielfalt der Nutzpflanzen(sorten)“?
  2. Wie ist diese Vielfalt entstanden?
  3. Ist die Vielfalt der Nutzpflanzen(sorten) bedroht und wenn ja, wodurch?
  4. Aus welchen Gründen sollte die Vielfalt erhalten werden und wenn ja, wer hat daran ein Interesse?
  5. Kann man Vielfalt überhaupt erhalten und wenn ja, wie sollte das am besten geschehen?
  6. Resümee

1. Was ist Biologische Vielfalt bzw. Vielfalt der Nutzpflanzen?

Amtliche Definitionen von Biologischer Vielfalt lauten ungefähr so: Unter Biodiversität wird die Vielfalt der äußeren Bedingungen (Vielfalt der Lebensräume), die Vielfalt der an diese Bedingungen angepassten Lebensformen (Vielfalt der Arten) und die genetische Vielfalt innerhalb der Arten (Vielfalt der Unterarten, Varietäten, Rassen und Sorten) verstanden.

Blanc Reine

Blanc Reine

Auf Nutzpflanzen bezogen könnte man das so formulieren: Es besteht eine große Vielfalt an Anbauflächen, die sich in Klima – Feuchtigkeit, Licht, Temperatur, Wind etc. – und Bodenverhältnissen unterscheiden. Auf diesen verschiedenen Flächen wird eine große Zahl von Nutzpflanzenarten angebaut, die sich wiederum in eine große Vielfalt an Sorten (Varietäten) unterteilen lassen, d. h., die eine große genetische Variabilität besitzen.

Sehr viel Vielfalt in sehr wenig Sätzen.

„Vielfalt“ klingt erstmal gut, klingt nach „viel“, ist es doch recht unbestimmt. Problematisch wird die Sache erst, wenn jemand fragt: Wie viel ist denn nun „viel“? Wie viele Lebensräume oder wie viele Sorten von Nutzpflanzen gibt es denn ganz konkret?

Nun muss man anfangen einzuteilen, abzugrenzen – und steckt schon bald in einem Dilemma: Je genauer der Blick, desto mehr Unterschiede werden sichtbar – und das, was eben noch eindeutig Eins war, löst sich in Einzelheiten auf. Bis man irgendwann feststellt: Lebensräume gehen ineinander über, jeder Fleck der Erde ist von jedem anderen irgendwie verschieden, sei es auch nur in winzigen Details; jeder lebende Organismen unterscheidet sich von jedem anderen in irgendeinem Merkmal, in irgendeinem Genabschnitt.

Wie kann ich da einteilen, gruppieren, eine endliche Zahl bilden?

Aprikose

Aprikose

Es hilft nichts, will man die Vielfalt genauer bestimmen, muss man irgendwo willkürlich Grenzen ziehen. Man muss irgendwann sagen: So, diese Unterschiede beachte ich jetzt nicht weiter, oder: Diese Individuen haben genügend übereinstimmende Merkmale, um sie zu einer Gruppe zusammenfassen zu können.

Aber kaum hat man diesen Prozess der Einteilung unter Mühen und tausend Streits abgeschlossen und glaubt, ein festes, gesichertes System in Händen zu halten, mit dessen Hilfe man die genaue Zahl von „Viel“ ermitteln, die exakte Zahl an Sorten benennen kann, die es zu erhalten gibt, taucht schon das nächste Problem auf: Die Dinge bleiben nicht stehen.

Die Erde dreht sich, die Erde verändert sich, die Auslesekriterien ändern sich, die Lebewesen passen sich veränderten Bedingungen an (die Lebewesen werden von den äußeren Bedingungen verändert, muss es natürlich korrekt heißen), es entstehen neue Sorten, Rassen, Varietäten, letztlich Arten – und schon kommt das ganze Gerüst wieder ins Wanken.

Es bleibt festzuhalten:

  • Lebewesen sind keine standardisierten, von Maschinen in Serie gefertigten Produkte, deren Merkmale absolut identisch sind (oder doch zumindest sein sollten). Jeder lebende Organismus ist einzigartig.
  • Arten und Sorten sind theoretische, abstrakte Konstrukte, die nicht klar und eindeutig voneinander abzugrenzen sind; sie sind nicht mit Automarken und deren Modellen vergleichbar.
Fratina

Fratina

  • Außerdem: Arten und Sorten sind nicht statisch; in jeder Generation findet eine Änderung der genetischen Grundlagen (Mutation, Neukombination) sowie eine Auswahl der Organismen durch die äußeren Bedingungen oder die Auslesekriterien der Menschen statt: Die einen prosperieren und vermehren sich/werden vermehrt, die anderen sterben/werden genutzt, ohne sich vermehrt zu haben. Je schneller die Generationenfolge, desto schneller die Veränderungen; aber auch, wenn nur alle 100 Jahre ein Vermehrungszyklus und eine Auslese stattfindet, bedeutet dies: Veränderung.

Ich finde es wichtig, diese Tatsachen im Bewusstsein zu behalten, wenn man über Vielfalt und ihre Erhaltung spricht.

2. Wie ist die Vielfalt der Nutzpflanzenarten und -sorten entstanden?

Für die Entstehung von (biologischer oder Sorten-)Vielfalt sind vor allem zwei Faktoren verantwortlich:

  1. die stetige Vermehrung genetischer Variabilität durch Rekombinationen (Kreuzungen, Mischung vorhandener Gene) und durch Mutationen (Änderungen an vorhandenen Genen),
  2. die beständige Selektion durch äußere Bedingungen (wozu letztlich auch die menschliche Einflussnahme zählt), d. h., die verbesserte Anpassung an bestimmte Vorgaben.
Ninotschka

Ninotschka

a. Wodurch wird die Vielfalt der NutzpflanzenARTEN bestimmt?
Die längste Zeit der Ackerbaugeschichte war Landwirtschaft vor allem Subsistenzlandwirtschaft (und ist es heute noch in vielen Gegenden der Erde): Der Anbau von Pflanzen diente in erster Linie dazu, die Bedürfnisse der Bauern und Bäuerinnen selbst zu befriedigen; ein Austausch von Pflanzenprodukten und Saatgut fand überwiegend (bestenfalls) lokal statt. Die Auswahl der genutzten ARTEN (deren Vielfalt) wurde durch diese Bedürfnisse bestimmt. So wurden neben Nahrungsmittelpflanzen z. B. Flachs und Hanf zur Herstellung von Stoffen, Färberpflanzen zu deren Färbung, Futterrüben und Futterkartoffeln für die Tierhaltung usw. angebaut.

b. Wie kommt es zu einer Vielfalt an NutzpflanzenSORTEN?
Die besten Anbauergebnisse konnten vor allem mit Individuen von NutzpflanzenARTEN erzielt werden, die unter den örtlichen Umweltbedingungen und mit den lokal vorhandenen Mitteln besonders gut gediehen. Wenn diese „besten“ Individuen weitervermehrt wurden, führte das im Laufe der Zeit zu einer besseren Anpassung an die gegebenen Verhältnisse und in der Regel auch zu äußerlich sichtbaren Unterschieden, es führte zu einer stetigen Zunahme an unterscheidbaren Gruppen innerhalb einer NutzpflanzenART, zu einer Vielfalt lokaler SORTEN.

Ein konkretes Beispiel wäre, wenn Zwiebelsamen aus der Ebene in einer benachbarten Gebirgslage ausgesät würden; dort überleben in den ersten Jahren jeweils nur wenige Exemplare die dortigen Witterungsverhältnisse. Diese wenigen Exemplare werden nun vermehrt, indem von ihnen Samen gewonnen werden. Schon nach wenigen Generationen gedeihen die Zwiebeln in der Höhenlage ebenso gut wie in der Ebene – sie sind physiologisch besser an die neuen Verhältnisse angepasst als ihre Vorfahren, sie sind der Ansatz zu einer neuen Sorte, die sich von der Ausgangssorte, der „Ebenen-Sorte“ unterscheidet. Die Anzahl der Zwiebelsorten hat sich vermehrt.

Cambridge Favourite

Cambridge Favourite

Auch die Ansprüche und Vorlieben der Anbauer*innen können zur Vermehrung der Sortenzahl beitragen. Wählt jemand z. B. aus einer rosa-farbenen Zwiebelsorte immer die am dunkel gefärbtesten Exemplare für die Weitervermehrung aus, so steht am Ende dieses Ausleseprozesses möglicherweise eine dunkelrote Zwiebelsorte. Der Nachbar wählt vielleicht aus der gleichen rosa-farbenen Sorte die heller gefärbten Zwiebeln zur Vermehrung aus und erzielt damit am Ende eine weiße Zwiebelsorte. Aus einer Zwiebelsorte werden so zwei, die Anzahl der Sorten hat sich insgesamt vermehrt.

Eine Vermehrung des angebauten Arten- und Sortenspektrums kam aber nicht nur zustande, indem vorhandene Sorten „weiterentwickelt“ wurden, sondern indem immer wieder auch neue Arten und Sorten aus anderen Gegenden (der Welt) in Kultur genommen wurden, man denke nur an Kartoffel, Mais und Kürbis, die nach der Entdeckung Südamerikas nach Europa kamen.

Drei Erkenntnisse lassen sich aus dem zuvor Gesagten schlussfolgern:

  1. die Vielfalt an Arten und Sorten ist kein Zustand, sondern ein Werden, ein ständiger (Entstehungs-/Entwicklungs)Prozess.
  2. die Anzahl der Sorten vermehrt(e) sich auf jeden Fall, solange Nutzpflanzen an die Vielfalt lokaler Bedingungen und individueller Bedürfnisse angepasst wurden. Daraus folgt direkt
  3. die Anzahl der Arten und Sorten steht in einem direkten Verhältnis zur Anzahl der Vermehrer*innen (gleichbedeutend mit Züchter*nnen; wer vermehrt, muss „Samenträger“ auswählen, womit er automatisch züchtet).

Auf einen weiteren Faktor, der die Vielfalt der Sorten beständig „vermehrt(e)“, möchte ich an dieser Stelle zumindest hinweisen: ihre Benennung. Gleiche Sorten wurden zu verschiedenen Zeiten oder an unterschiedlichen Orten mit verschiedenen Namen belegt; so konnten aus einer Sorte leicht mehrere werden. Eine solche Vielfalt ist dann aber nur eine Vielfalt der Namen; leider ist sie nur mit Hilfe aufwändiger Untersuchungen und Vergleiche der äußeren (oder heute auch der genetischen) Merkmale von der „echten“ Sortenvielfalt zu unterscheiden.

3. Wodurch hat sich sich Zahl der angebauten Nutzpflanzenarten und -sorten verringert, wodurch wird ihre Vielfalt bedroht und – ist sie überhaupt bedroht?

Diesen Abschnitt möchte ich mit einem Zitat aus einem Buch von 1866 einleiten, dem „Illustrierten Handbuch der Obstkunde“, Band 5 von F. Jahn, E. Lucas, J. G. C. Oberdieck, S. 9:

„…Der Wegfall mancher älteren Früchte wird aber auch daraus erklärlich, daß man mit ihnen aus irgend einem Grunde nicht zufrieden war. So denkt z. B. auch in der Gegend von Meiningen fast Niemand mehr daran, die früher so beliebte Colmar, die Virgouleuse und selbst die St. Germain [Namen von Birnensorten] u.s.w. zu pflanzen und doch waren dieselben in der Vergangenheit fast in allen Gärten zu finden. Selbst von Sorten, deren Vorzüglichkeit zu groß und bekannt ist, um mit Einem Male vergessen zu werden, wie z. B. B[eurré] gris und B[eurré] blanc, macht man nur noch in einzelnen Fällen, an Wänden und in geschützen Hausgärten, Gebrauch. Bei den Aepfeln verhält es sich ziemlich ähnlich mit Weißem und Rothem Wintercalvill, mit Reinette von Orleans und einzelnen anderen. Diese Sorten liefern gegen andere inzwischen bekannt gewordene nur einen geringen Ertrag; ihre Früchte sind zu oft fleckig, krüppelig, nicht schön. Doch ist dies wohl von jeher so gewesen und auch Oberdieck meint, in seiner Jugend nie andere als steinige Früchte der St. Germain genossen zu haben, aber man kannte nichts Besseres und war damit zufrieden. Jetzt ist dies anders; unter den neueren Birnen bilden sich viele in den meisten Jahren vollkommen aus, sie übertreffen die alten in Zartheit und Saftfülle und in dem Mangel an Gries und Steinen, besonders aber in der Tragbarkeit. Aus diesem Grunde pflanzt man jetzt lieber eine Napoleon, eine Holzfarbige, eine Capiaumonts und Coloma’s Herbst-Butterbirne, einen Gravensteiner, eine Englische Wintergoldparmaine, wenn diese Sorten auch die genannten älteren nicht alle ganz in Güte erreichen…“

Mancheine*r wird nun stutzen und sich fragen: Schon 1866 beklagten sich Leute über den Verlust von alten Sorten?! Sind die heutigen Klagen über den Verlust an Vielfalt nicht nur eine Wiederholung des alten Gejammers und heute ebenso wenig berechtigt wie damals?

Havelland

Havelland

In dieser Haltung wird bestätigt, wer einer Presseinformation des Bundesverbandes Deutscher Pflanzenzüchter e.V. von 2011 entnimmt: „[…] In Deutschland sind fast 3.000 Sorten bei den landwirtschaftlichen Arten und im Bereich Gemüse zugelassen. Jedes Jahr kommen mehr als 200 neue Sorten hinzu. „Diese Zahlen belegen eindrucksvoll die Innovationskraft der Züchtungsunternehmen. Die Pflanzenzüchter schaffen mit der stets neuen Kombination genetischer Bausteine eine große Bandbreite an Sorten und tragen damit maßgeblich zur Steigerung der Biologischen Vielfalt heimischer Arten bei“, erklärt Dr. Carl-Stephan Schäfer, Geschäftsführer des BDP[…]“

Wie geht das zusammen? Nimmt die Nutzpflanzenvielfalt nun zu oder ab?

Im letzten Abschnitt habe ich versucht, deutlich zu machen, dass die Anzahl der angebauten Nutzpflanzenarten und -sorten einerseits von den Bedingungen abhängig ist, unter denen sie gebraucht und ausgewählt werden. Diese Bedingungen waren lange Zeit die Subsistenzwirtschaft sowie die regional sehr unterschiedlichen Umweltverhältnisse. Andererseits ist die Zahl der Züchter*innen (Saatgutgewinner*innen) von Bedeutung.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Bedingungen jedoch tiefgreifender (als sie das auch bis dahin schon getan hatten): Wissenschaftliche Erkenntnisse setzten sich durch und verbreiteten sich (Darwins und Mendels Erkenntnisse veränderten die Zucht, Liebigs Entdeckungen die Düngung), neue Energie- und Antriebsquellen konnten genutzt werden (Kohle, Öl, Dampfmaschine, Elektro-, Diesel- und Benzinantriebe), neue Verkehrsmittel wurden entwickelt (Eisenbahn, Automobil), die Verkehrswege ausgebaut, neue Pflanzenschutzmittel konnten gefunden und produziert, Düngemittel großtechnisch hergestellt werden, um nur einige der Entwicklungen zu nennen.

Kaisers Sämling

Kaisers Sämling

Diese Entwicklung beschleunigte sich mit zunehmender Entwicklung und Anwendung von Wissenschaft und Technik ab Mitte des 20. Jahrhunderts in den industriell entwickelten Ländern noch einmal; doch auch in allen anderen Ländern ist sie zu beobachten.

Viele der bis dahin produzierten, pflanzlichen Produkte konnten durch neue, technisch hergestellte oder aus anderen Weltteilen billig herangeschaffte ersetzt werden: Baumwolle und Kunststoffe verdrängten Leinen- und Hanfgewebe, rohöl-basierte Farbstoffe die Färberpflanzen, billigere Futtermittel wie Soja und Fischmehl ersetzten Futterrüben und -kartoffeln in der Kuh- und Schweinehaltung; Dieseltreibstoff ersetzte Heu und Hafer als Antriebsmittel der Arbeitsaggregate. Viele Nutzpflanzenarten wurden nicht mehr gebraucht. Die Vielfalt der angebauten ARTEN verringerte sich dadurch erheblich.

Auch die Anbaubedingungen und Auswahlkriterien für die weiterhin genutzten Arten änderten sich: Maschineneinsatz und chemische Hilfsstoffe, die Rationalisierung der landwirtschaftlichen „Produktion“, überregionaler Handel und verarbeitende Industrien bestimmten die Kriterien für die Auswahl der Sorten. Nicht mehr die Eigenversorgung stand im Vordergrund, sondern die Produktion für den (globalen) Markt.

Die genannten Faktoren führten dazu, dass die einzelnen Ackerbauflächen/Felder größer und einheitlicher wurden (ertragsschwächere Randlagen wurden/werden zunehmend als Anbaufläche aufgegeben), dass Unterschiede in den Umweltbedingungen ausgeglichen werden konnten. Die Anbaubedingungen wurden insgesamt vereinheitlicht (und werden in naher Zukunft durch die technische Entwicklung noch weiter vereinheitlicht werden).

Korona

Korona

Wenn man davon ausgeht, dass (im Extremfall) immer nur eine Sorte die optimalen Ergebnisse unter bestimmten, klar definierten Bedingungen erbringt (weil sie an diese Bedingungen am besten angepasst ist), so lässt sich daraus ableiten: Wenig unterschiedliche Bedingungen haben eine geringe Anzahl an Sorten zur Folge (lokal und regional betrachtet war auch früher die Zahl der in einem begrenzten Gebiet angebauten, d. h. optimal an diese Standorte angepassten Sorten sehr gering).

Das ist die eine Seite, die für einen erheblichen Verlust an Sorten, an genetischer Vielfalt spricht. Es mögen zwar jährlich 200 Sorten neu zugelassen werden; diese sind aber überwiegend für die gleichen äußeren Bedingungen „optimiert“ und sollten deshalb genetisch ziemlich homogen sein; es wird also bestenfalls die Vielfalt der Namen vermehrt.

Eine andere Entwicklung, die auf eine tatsächliche Abnahme der Sortenvielfalt hinweist – und nicht nur auf eine Veränderung des Sortenspektrums, wie 1866 beklagt, oder gar auf eine Zunahme, wie vom BDP behauptet – ist die außerordentliche Reduktion derjenigen, die die Nutzpflanzen heute generativ vermehren und anschließend selektieren (und damit neue Sorten züchten). Es findet fortlaufend eine Konzentration der „Züchter-Branche“ statt: Seit den Zeiten, als nahezu jede*r Anbauer*in auch Züchter*in war, über die Phase der professionalisierten Züchtung bis heute, wo immer weniger Unternehmen immer größere Anteile des Saatguts bereit stellen.

Elsanta

Elsanta

Ich denke, die Abnahme der Sortenvielfalt, die Vereinheitlichung der genetischen Grundlagen ist eindeutig, da mögen die interessierten Kreise aus Industrie und Forschung noch so sehr auf das Gegenteil, auf ihre Erfolge pochen.

Es gilt aber noch die Frage zu beantworten: ist diese Entwicklung nicht grundsätzlich zu bejahen und nicht weiter tragisch zu nehmen?

4. Warum sollte (zumindest) die Sortenvielfalt erhalten werden und wenn ja, in wessem Interesse ist dies?

Um dieser Frage nachzugehen, möchte ich zuerst die Gründe aufzählen, die von interessierten Kreisen für den Erhalt der (genetischen) Vielfalt, genauer: dem Erhalt heute nicht mehr kommerziell genutzter Arten und Sorten angeführt werden.

Folgende sieben Begründungen konnte ich ausmachen:

a. Erhalt für die Pflanzenzucht

Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Abnahme der Sortenvielfalt deutlich. Viele professionelle Pflanzenzüchter betrachteten dies mit Sorge; denn Pflanzenzucht ist auf existierende Eigenschaften von Pflanzen angewiesen, um neue (und vielleicht bessere) Eigenschaften herstellen (d. h., kombinieren, züchten) zu können; gezielte Pflanzenzucht braucht eine große genetische Vielfalt. Die künstliche Erzeugung von Mutationen, die ebenfalls versucht wurde/wird, ist zu aufwändig, unspezifisch und damit uneffektiv; sie kann die unter natürlichen Bedingungen entstehenden Mutationen (Fehler) niemals simulieren.

Tenira

Tenira

Um dieser voraussehbaren Abnahme der genetischen Mannigfaltigkeit entgegenzuwirken, wurde schon damals vorgeschlagen, Sammlungen von Nutzpflanzen anzulegen, um möglichst viele Sorten mit ihren genetisch fixierten Eigenschaften für die Pflanzenzucht zu erhalten.

Der russische Botaniker N. I. Wawilow war der erste, der in den 1930er Jahren eine solche Sammlung (heute auch „Genbank“ genannt) im damaligen Leningrad (St. Petersburg) anlegte; sie ist immer noch die größte weltweit.

Derartige Sammlungen existieren für zahlreiche Nutzpflanzenarten mittlerweile in vielen (reichen) Ländern der Erde. In Deutschland befinden sich Genbanken in Gatersleben und Pillnitz bei Dresden.

Die Pflanzenzucht, sei sie nun konventionell oder gen-technisch, wird für die Sicherung der zukünftigen menschlichen Ernährung von breiten Kreisen der Gesellschaft als besonders bedeutungsvoll angesehen – und der Erhalt der „alten“ Sorten (ihres „Gen-Materials“) zu diesem Zweck für unabdingbar erachtet; insofern ist der überwiegende Teil der Anstrengungen (und der finanziellen Mittel) zur Erhaltung der „alten“ Nutzpflanzensorten auf dieses Teilgebiet ausgerichtet.

b. Erhalt aus kultur-historischen Gründen

Als in den 1980er Jahren die Auswirkungen der industriellen Produktion von bestimmten (gesättigten?) Kreisen bewusster wahrgenommen und stärker in die öffentliche Diskussion eingebracht wurden („Umwelt-/Ökologiebewegung“, GRÜNE), geriet auch die oben beschriebene Veränderung der Nutzpflanzenzusammensetzung durch die moderne Landwirtschaft in den Blickpunkt.

In vielen (Industrie)Ländern fanden sich Einzelpersonen zusammen, denen die aussterbenden Nutzpflanzenarten und- sorten am Herzen lagen. So wie Menschen mit Interesse an historischer Technik gründeten sie Vereine und Stiftungen mit dem Ziel, diese Arten und Sorten zu erfassen, zu sammeln und in begrenztem Umfang gemeinsam zu pflegen: Save-Our-Seeds (USA), Kokopelli (Frankreich), VEN, VERN (Deutschland), Arche Noah (Österreich), ProSpecieRara (Schweiz), Frøsamlere (Dänemark) sind nur einige davon; diese Vereine haben zumeist einen gemeinnützigen Status.

Wunder von Köthen

Wunder von Köthen

Dieses private Interesse überschneidet sich in diesem Fall mit dem öffentlichen Interesse, die Vergangenheit, die Geschichte der Gesellschaft zu (re)konstruieren, zu pflegen und zukünftigen Generationen möglichst anschaulich in Museen und ähnlichen Sammlungen vor Augen zu führen. Die Sammlung „alter“ Nutzpflanzen(sorten) reiht sich ebenso zwanglos in diesen Zusammenhang ein wie die Sammlung „alter“ Technik; deshalb haben auch öffentliche Einrichtungen, wie Freilicht- und Regional-Museen, mittlerweile derartige Nutzpflanzen-Sammlungen in ihren Tätigkeitsbereich integriert („Bauerngärten“, öffentliche Schaugärten mit lokalen Sorten).

c. Erhalt aus Gründen der „Agro-Biodiversität“

Unter vielen Naturwissenschaftler*innen herrscht die Ansicht vor, dass Lebensräume mit einer großen Anzahl an Tier- und Pflanzenarten stabiler seien, d. h. weniger heftig auf die Veränderung einzelner Faktoren reagierten; deshalb bedürfe eine kleinteilige Agrarlandschaft mit vielfältig gemischten Nutzpflanzen weniger künstlicher „Hilfs-, Unterstützungs- und Zusatzstoffe“ für ihr Gedeihen als eine Monokultur. Dies spreche für den Anbau einer großen Anzahl von verschiedenen Nutzpflanzenarten und -sorten auf kleinen Flächen eng beieinander. Für einen solchen Mischanbau seien auch die „alten“ Sorten äußerst nützlich.

Diese Ansicht ist zweifelsohne richtig. Krankheiten und Witterung wirken auf verschiedene Organismengruppen unterschiedlich; es leiden unter ihnen also immer nur einzelne Pflanzenarten und -sorten und reagieren mit verringerten Erträgen oder Totalausfällen – der Rest bringt normale oder vielleicht sogar bessere Erträge.

Ist bei Monokulturen aber die eine angebaute Pflanzenart (die heutzutage auch genetisch möglichst einheitlich sein soll – F1-Hybrid-Pflanzen) von einem negativ wirkenden Faktor betroffen, kann dies zu einem Totalverlust führen.

Osterfee

Osterfee

Die kleinteilige Anbauform widerspricht jedoch der effektiven Massenproduktion von Pflanzen(teilen), die nur mit Hilfe von Maschinen sowie Schutz- und Düngemitteln bewerkstelligt werden kann; deshalb kommt ein solcher, vielfältiger Anbau mit erhöhtem menschlichen Arbeitseinsatz nur für Spezialkulturen, Öko- bzw. Bio-Anbau in Frage, deren Produkte einen höheren Preis erzielen und nur dadurch rentabel, d. h. Unkosten deckend und Gewinn bringend erzeugt werden können.

d. Erhalt interessanter, ungewöhnlicher Formen, Farben und vor allem Geschmäcker

Die maschinen-gestützte landwirtschaftliche Massenproduktion reduziert die Anzahl effektiv anzubauender Nutzpflanzensorten schon erheblich; dazu kommen die Anforderungen des Handels, der aufgrund der schon beschriebenen technischen Neuerungen einem Konzentrationsprozess unterliegt und somit immer größere Mengen einheitlicher Pflanzenprodukte (Obst und Gemüse) benötigt.

Diese beiden Faktoren führen zu einem vereinheitlichten Angebot und damit für den Verbraucher zu einer verringerten Auswahl. Menschen, deren Grundbedürfnisse befriedigt sind, gelüstet es aber teilweise nach Abwechslung, nach dem etwas Anderen, dem Besonderen v. a. im Geschmack. Ein solches Bedürfnis kann mit Sorten befriedigt werden, die anders aussehen und schmecken als die „Massenprodukte“; in vielen Fällen erfüllen „alte“ Sorten diesen Zweck.

Fracunda

Fracunda

Aus diesem Grunde hat die gehobene Gastronomie, die Slow-Food-Bewegung, die Bewegung „Esst regionale, lokale Produkte!“ ein Interesse an der Erhaltung „alter“ Sorten.

e. Erhalt zum Zweck der Saatgut-Souveränität

Moderne Züchtungsmethoden nutzen, wie schon erwähnt, aufwendige Labor-Techniken, die nur von großen, finanzstarken Konzernen mit entsprechenden Absatzmengen aufgebaut und unterhalten werden können. Dies hat dazu geführt, das der „Saatgutmarkt“ von immer weniger Firmen beliefert wird.

Die hohen Investitionskosten in Zusammenhang mit der notwendigen Kapitalrendite sorgen außerdem dafür, dass diese Firmen einen möglichst großen Gewinn benötigen und aus diesem Grunde ein starkes Interesse haben, den freien Nachbau „ihrer“ Sorten zu verhindern.

Sie erreichen dieses Ziel neben der Einflussnahme auf den Gesetzgeber (Sortenzulassung und -schutz, Nachbau-Verbote) vor allem durch die verstärkte Erzeugung von Hybrid(F1)-Sorten; das sind Sorten, die kein (relativ) einheitliches Erbgut besitzen (homozygot/reinerbig sind) wie gewöhnliche Sorten – und deshalb problemlos nachgebaut werden könnten, sondern gerade ein möglichst unterschiedliches (heterozygot/gemischterbig). Eine Weitervermehrung dieser Hybrid-Sorten führt damit zu sehr unterschiedlichen Individuen, zu einem „bunten Pflanzenmix“, der vorhersehbare Anbauergebnisse ausschließt.

In letzter Konsequenz führen die sich entwickelnden technischen Möglichkeiten zum Einsatz von Terminator-Genen, d. h., von Genen, die eine Keimung der geernteten Saaten grundsätzlich verhindern.

Malwina

Malwina

Diese Nutzungseinschränkungen und drohenden Abhängigkeiten lassen viele Anbauer*innen (Öko-Landbau, Klein- und Nebenerwerbslandwirtschaft, Gärtner*nnen) ihre Hoffnungen auf „alte“, herkömmlich vermehrbare Sorten setzen.

f. Erhalt aus rein persönlichem Interesse, wegen individueller Vorlieben

Manchmal braucht es kein übergeordnetes oder allgemeines Interesse, um etwas zu rechtfertigen. Man kann rein persönliche und individuelle Gründe haben, bestimmte Sorten zu bevorzugen und damit zu erhalten. Die Schwarz-Blaue Fränkische Kartoffel z. B. hat nur überlebt, weil zwei Familien über mehrere Generationen nicht auf Neuerungen setzen, sondern bei Altbewährtem bleiben wollten.

g. Zweckfreie Erhaltung

Neben den vorgenannten Begründungen, die einen Zweck, eine Nutzen für Menschen in den Vordergrund stellen, wird die Erhaltung der „alten“ Sorten manchmal auch zweckfrei, ich sage bewusst überspitzt, mit einem 11. Gebot begründet: „Die Vielfalt zu erhalten, ist auch eine moralische Verpflichtung. Die Vielfalt des Lebens stellt einen Wert an sich dar und ist damit schützenswert“ (Arche Noah), „Wir sind ethisch dazu verpflichtet, die Biodiversität zu schützen…“ (Bundesamt für Naturschutz). „Du sollst die Vielfalt hüten wie Deinen Augapfel!“ (GOTT)

Auf dieses Argument stützen wohl eher kirchliche Kreise bzw. religiöse oder esoterische Menschen ihre Forderung nach der Erhaltung der „Sortenvielfalt“.

Laxtons's Noble

Laxtons’s Noble

Ich habe bei den einzelnen Begründungen versucht, jeweils die Gruppen anzugeben, die das Argument für das Ziel „Erhalt der Vielfalt“ nutzen. Aus der Übersicht der Interessengruppen wird meines Erachtens deutlich, dass zumeist partielle Interessen im Vordergrund stehen, Interessen von kleineren Gruppen (die allerdings über einen größeren gesellschaftlichen Einfluss verfügen können); allein für die Nutzung in der Pflanzenzucht wird dem „Erhalt der Vielfalt“ eine gesamt-gesellschaftliche Bedeutung beigemessen.

Die Übersicht der Argumente zeigt aber vor allem, dass die Vielfalt nicht mehr von einer äußeren Notwendigkeit bestimmt wird, sondern vom Interesse und dem Einfluss gesellschaftlicher Gruppen abhängig ist: Sobald das Interesse nachlässt oder der Einfluss schwindet, ist die Vielfalt nicht mehr zu retten.

Aber gehe ich einmal davon aus, dass die Nutzpflanzenvielfalt zum Staatsziel erhoben wird und sich das Interesse an ihrer Erhaltung auf weite Kreise der Gesellschaft erstreckt, dann bleiben immer noch folgende Fragen unbeantwortet:

vicomtesse-2016-06-12

5. Kann mensch Nutzpflanzenvielfalt überhaupt erhalten und wenn ja, wie am besten?

Ich habe mich in den vorangehenden Abschnitten bemüht, möglichst selten von „Erhaltung der Vielfalt“ zu schreiben, sondern den Sachverhalt, um den es geht, genauer zu benennen: Um die Erhaltung von Nutzpflanzenarten und -sorten, die in den letzten 100 Jahren aus dem kommerziellen Anbau in den Industrieländern verschwunden sind. bzw. die in den kommenden Jahren in den meisten sich ebenfalls industrialisierenden Ländern aus dem Anbau verschwinden werden.

Es geht also konkret um die Frage: Kann man kommerziell nicht mehr verwendete, sogenannte „alte“ Pflanzenarten und -sorten erhalten?

Camarilla

Camarilla

Die Beantwortung dieser Frage wirft jedoch zwei neue Fragen auf: a.) was versteht man unter „erhalten“ und b.) welche Arten und Sorten sollen (im zuvor definierten Sinne) erhalten werden?

zu a. Was ist „Erhaltung“ (von Nutzpflanzensorten)?

Nachfolgend stelle ich die Formen der Erhaltung vor, die im Moment genutzt bzw. propagiert werden.

  • Ist eine Art/Sorte erhalten, wenn (im Extremfall) von einem Individuum, das anhand seiner äußeren und inneren Merkmale dieser Art/Sorte zugeordnet wurde, Genmaterial in Form von ein paar Samen oder Zellen eingefroren wird (Tiefkühllagerung bei -18°C. bzw. -196°, Kryokonservierung), dieses Material alle paar Jahr(zehnt)e „zum Leben erweckt“, vermehrt und einige, der neu gebildetenen Samen oder Zellen dann wieder für lange Zeit tiefgekühlt werden (diese Erhaltungsform wird „Ex-situ“ – außerhalb des natürlichen Lebensraums – genannt und ist die, in modernen Genbanken üblicherweise praktizierte Form)?
  • Oder ist eine Art/Sorte erhalten, wenn man sie in wenigen Exemplaren aber regelmäßig an ein paar Orten anpflanzt und diese Anpflanzungen mit Hilfe von Samen oder vegetativer Teile regelmäßig erneuert und sie in der Zwischenzeit als Saatgut lagert („In-situ“; diese Erhaltung betreiben Genbanken, private Erhalterinitiativen, Botanische Gärten, Freilichtmuseen, Schaugärten u. ä.)?
  • Oder ist eine Art/Sorte erhalten, wenn sie weiträumig verteilt in größerer Individuenzahl angebaut wird, wobei peinlich genau darauf geachtet wird, bestimmte äußerliche Sortenmerkmale (das „Sortenbild“) zu erhalten (In-situ; Private Erhalterinitiativen mit Sortenpartnerschaften)?

  • Oder ist eine Art/Sorte dann erhalten, wenn sie in gewissem Ausmaß wieder kommerziell bzw. in größerem Ausmaß und jährlich angebaut und genutzt wird (On-farm; Ökolandbau, Spezialkulturen, subventionierte Bewirtschaftung, Privatgärten, öffentliche Gärten und Parks)?

Ich glaube, dass alle Verfahren zum Scheitern verurteilt sind, da ihnen ein mechanistisch geprägtes Verständnis von „Erhalten“ zugrunde liegt: „Arten/Sorten“ werden hier mit Oldtimer-Fahrzeugen gleichgesetzt, die man in einer Garage putzen, pflegen und in einem bestimmten Zustand erhalten kann.

„Arten“ und „Sorten“ umschreiben aber eine Gruppe von lebenden Organismen, die das Ergebnis eines Prozesses sind, das Ergebnis von Mutationen und Selektionen. Dieser Prozess kann jedoch nicht angehalten werden wie ein Film.

Folgender Sachverhalt macht das meines Erachtens klar: Bei allen genannten Formen der „Erhaltung“ findet bei jedem Vermehrungszyklus eine Auswahl (der „besten“ Individuen für die Weitervermehrung), eine Auslese statt; dadurch werden die Sorten aber an die Anbau- bzw. Vermehrungsbedingungen, die Erhaltungsbedingungen, und die Auswahlkriterien der „Erhalter“ angepasst, was die Sorten zwangsläufig verändert.

Keine Sorte bleibt, was und wie sie einmal war; sie wird durch jeden Vermehrungszyklus weiter an ihre speziellen „Erhaltungs“bedingungen angepasst, im schlimmsten Fall an Laborbedingungen.

Es wird im besten Fall das imaginierte Bild einer „Sorte“ erhalten, aber niemals die ursprüngliche Sorte selbst; denn diese war das Ergebnis spezieller äußerer Bedingungen und/oder spezieller menschlicher Vorlieben und ist demzufolge nur in diesem Kontext zu „erhalten“ (Nein, auch unter den ursprünglichen Bedingungen wäre sie [weiter]entwickelt worden, hätte sie sich verändert!!!)

Jedes Lebewesen muss sich zyklisch vermehren; seine Vermehrungschancen sind jedoch immer von den äußeren Umständen abhängig. Etwas Lebendes in einer statischen Form „erhalten“ zu wollen, ist ein Widerspruch in sich selbst.

Polka

Polka

Ich sehe also schwarz für derartige „Erhaltungs“bemühungen, denen am ehesten das Einfrieren, die Tiefkühllagerung entspricht.

zu b. Welche Nutzpflanzenarten und -sorten sollen erhalten werden?

Nehmen wir aber an, ich hätte unrecht und die gegenwärtigen Erhaltungsmaßnahmen würden im angestrebten Sinne wirken, dann bleibt immer noch die Frage: Wie viele und welche Arten und Sorten sollten erhalten werden?

Die Zahl der Sorten ist, gerade auch bei den vegetativ vermehrbaren Arten, bei denen jedes einzelne Individuum, das aus einem Samen entstanden ist, eine eigene „Sorte“ darstellt (Apfel, Birne, Stachelbeere, Kartoffel u. a.), dermaßen groß, dass nur eine gezielte Auswahl an Sorten mit überschaubarem Aufwand erhalten werden kann.

Je nach Erhaltungsmethode können zwar mehr oder weniger Arten und Sorten „erhalten“ werden; aber auch die gutwilligsten Erhalter*innen müssen zahlreiche Arten und Sorten aussterben lassen.

«Als „erhaltenswert“ wird eine Rasse bezeichnet, wenn sie „alt“ und „gefährdet“ ist, eine besondere kulturhistorische Bedeutung aufweist und sich dabei in wenigstens einem Merkmal deutlich von anderen Rassen unterscheidet.» (Rote Liste für gefährdete Nutzpflanzen – Handlungsmöglichkeiten und ausgewählte Fallbeispiele aus der Region Brandenburg; S. 17, Fußnote 33) oder „Die Qual der Wahl – Welche Nutzpflanzen sollen erhalten werden?“

Resümee

„Erhalt der Vielfalt“ klingt gut, sagt aber wenig. Der damit eigentlich gemeinte Erhalt von „alten“ Sorten, geht von einem starren, mechanistischen Verständnis von Sorten und Erhaltung aus, das letztlich vor allem auf tiefgefrostete Gewebeproben im Ewigen Eis von Spitzbergen hinausläuft.

Sorten sind – wie oben ausführlich dargelegt – das (Zwischen)Ergebnis eines Prozesses, eines Prozesses, der niemals abgeschlossen ist. Auch „Erhaltung“ verändert Sorten. Weder Sorten noch Vielfalt lassen sich in einem statischen Zustand erhalten; beide können nur erhalten werden, indem sie ständig neu erschaffen werden.

Deutsch Evern

Deutsch Evern

Es gilt also, möglichst viele Sorten wieder zum Leben zu erwecken. „Zum Leben erwecken“ bedeutet, dass die aussterbenden Sorten wieder in einen lebendigen Zusammenhang gebracht werden, dass sie kultiviert, vermehrt, gekreuzt, ausgelesen, angepasst und verändert werden, dass sie vielfach geliebt und begehrt werden, dass sie in hundert (neue) Farben, Formen, Düfte und Geschmacksnuancen zerfließen, dass sie nicht bleiben, wie sie sind, sondern ständig „werden“.

Regional vermarktende (Öko)Bäuer*innen, private Kleingärtner*innen und auf „Sonderkulturen“ spezialisierte Anbauer*innen sollten den „alten“ Sorten ein solch neues „Luxusleben“ bieten können, indem sie selbst wieder Saatgut gewinnen.

Wie viele Sorten könnten darüber hinaus neu entstehen, wenn sich besagte Anbauerer*innen erst einmal wieder mit der spannenden Aufzucht von Obst und Gemüse aus Samen beschäftigen!

Auch der doch recht große öffentliche Raum in Städten und Gemeinden könnte in dieser Hinsicht eine bedeutende Rolle spielen: statt nichtsnutzer Zierpflanzen könnten dort tausende Bäume und Büsche alter Sorten gepflanzt werden sowie 1000 x 1000 Büsche und Bäume, die aus Samen gezogen worden sind – das würde die Vielfalt nicht nur „erhalten“, sondern immens vermehren.

Gariguette

Gariguette

Ich sehe keinen Grund, warum es nicht wenigstens einigen der alten Erdbeersorten (um diesen Beitrag auch mit ihnen zu schließen), die heute von der Genbank Obst „erhalten“ werden, vergönnt sein sollte, sich in Kleingartenanlagen und ähnlichen Parzellen auszubreiten, sich dort zu vermehren und zu vermischen?

Die Flächen dafür sind vorhanden (nur 12% der Kleingartenfläche wird laut einer Erhebung von 2015 für den Anbau von Nahrungspflanzen genutzt; außerdem gibt es immer mehr Stilllegungsflächen, „unwirtschaftliche“ Grenzertragslagen usw.) Nicht nur Mieze Schindler hat ein Leben nach dem Tode verdient, sondern auch Königin Luise, Kaisers Sämling, Sieger, Fratina, Hansa, Aprikose, Osterfee, Wunder von Köthen, Jucunda, Madame Moutot, Gariguette und Laxtons Noble! Mindestens!

Doch um Sorten und den ihnen zugrunde liegenden Entwicklungsprozess wieder lebendig werden zu lassen, müssen zumindest sämtliche bürokratische Hürden aus der Welt geschafft werden, die diesen Vorgang behindern (an öffentliche Fördermittel und „Erweckungsprämien“ will ich dabei gar nicht denken).

Madame Moutot

Madame Moutot

Die wichtigsten Punkte sind in diesem Zusammenhang:

  1. die in (öffentlichen) Genbanken konservierten Sorten müssen (schnellstmöglich, um ihre weitere Anpassung an Genbank-Bedingungen zu verhindern) jedermann zugänglich gemacht werden – und nicht nur professionellen Pflanzenzüchtern.
  2. die (kommerzielle) Vermehrung und Verbreitung dieser Sorten darf nicht behindert oder gar ausgeschlossen werden, schon gar nicht durch eine Regelung, die ursprünglich den Raub von Resourcen in den wenig industrialisierten Ländern durch Akteure aus den Industrieländern verhindern sollte (Standard Material Transfer Agreement, SMTA).
  3. sämtliche Regelungen im Saatgutrecht, die den Verkehr mit „alten“ und neu entstandenen (Amateur)Sorten einschränken, müssen aufgehoben bzw. „verkehrsfreundlich“ formuliert werden. Hier sind vor allem an die Regelungen zu denken, die eine Sortenzulassung, die „Sortenechtheit“ und „Sortenreinheit“ verlangen.

Zusätzlich sollten alle kommunalen Einrichtungen, die für die Pflege und den Besatz öffentlicher Grünanlagen verantwortlich sind, verpflichtet werden, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Anlagen mit alten Obstsorten oder -sämlingen zu bepflanzen.

Sieger

Sieger

Mit diesen Maßnahmen könnte die vergangene Vielfalt nicht wiederhergestellt, ja, nicht einmal ansatzweise „erhalten“ werden; aber es könnte eine Kultur enstehen, die das größtmögliche Ausmaß an (genetischer) Vielfalt bewahren und neu entstehen ließe.

Ich garantiere: nach einer solchen lebendigen Vielfalt wird sich sogar der letzte verbliebene Pflanzen“zucht“-Konzern die Finger lecken, wenn er einst die paar brauchbaren Eigenschaften aus seinem läppischen Genmaterial in Spitzbergen herausgepopelt und zu „neuen“ Sorten zusammengesetzt hat. Er wird dann seine Angestellten ausschwärmen lassen, um in öffentlichen Grünanlagen und privaten Kleingärten den „Baum der Erkenntnis“ zu finden.