Heiliger John Seymour!
oder: Warum „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ eine Fälschung ist.
Ich wollte in diesem Beitrag ursprünglich nur berichten, was John Seymour in seiner bekannten „Selbstversorger-Bibel“ von 1976 über die Selbstversorgung mit Saatgut geschrieben hat. Als ich das Buch daraufhin penibel untersuchte, machte ich jedoch zwei Entdeckungen, die mich plätteten: Die deutsche Übersetzung des Buches ist grottenschlecht. Und – schlimmer noch: Die Absicht des Autors wurde von seinem deutschen Verlag – auch durch die miese Übersetzung – ziemlich übel und einseitig verfälscht (die neueste Ausgabe basiert zum größten Teil auf der verfälschten Erstausgabe).
Das ist starker Tobak: Eine solche Anschuldigung muss ich natürlich belegen.
Mach‘ ich auch; aber vorher zähle ich noch kurz die verschiedenen Ausgaben und Herausgeber des Buches auf und gebe das Ergebnis meiner Recherche zu Seymours Saatgutversorgung bekannt.
Kurze Buchreihe mit langer Geschichte
Das besagte Buch erschien 1976 unter dem Titel „The complete book of self-sufficiency“ und wurde von Dorling Kindersley herausgegeben. 1978 brachte es der Otto Maier Verlag, Ravensburg, (heute: Ravensburger AG) auf den deutschen Markt und legte dort bis 1995 weitere 18 Auflagen zum Kauf aus.
2003, noch zu Lebzeiten von John Seymour (er starb 90-jährig 2004), entließ der Verlag Dorling Kindersley, mittlerweile ein Teil von Penguin Books, das Original neu lackiert als „The new complete book of self-sufficiency“ in die (englisch-sprachige) Welt. Bald darauf (2004) wurde es den deutschen Leser*innen vom Urania-Verlag als „Das neue Buch vom Leben auf dem Lande“ verkauft.
Seit Januar 2020 versucht der Verlag Dorling Kindersley, ab 2013 zum deutschen Bertelsmann-Konzern gehörig, mit einer weiteren Neuauflage noch einmal Kapital aus diesem Uralt-Stoff zu schlagen.
Alle Achtung!
Dieser Beitrag enthält Werbung! für das neueste Buch vom Leben auf dem Lande (welches allerdings, wie schon erwähnt, zu großen Teilen den alten Büchern entspricht; * eine auführliche Kritik findet Ihr am Schluss des Beitrags)
John Seymour und die Selbstversorgung mit Saatgut
Nachdem ich schon zahlreiche Gartenbücher auf die „Versunkene Kultur“ des Samenbaus untersucht hatte, wollte ich neulich auch endlich mal „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ mit der „Saatgutfrage“ konfrontieren; denn der „Weg zur Selbstversorgung“ kann unmöglich ohne eigenes Saatgut beschritten werden, dachte ich, und Seymours Anleitung zur Selbstversorgung sollte deshalb auch ausführliche Informationen über die Saatgut-Selbstversorgung enthalten.
Was hat John Seymour also über Saatgut und seine Gewinnung geschrieben?
Ich durchsuchte alle erreichbaren Ausgaben von vorn bis hinten; doch ich suchte vergebens: John Seymour verliert in seinem Werk kein Sterbenswörtchen über die Herkunft des Saatguts, das er in einigen Kapiteln ausstreut. Er erwähnt nicht einmal, dass es in einem Fachgeschäft gekauft werden muss so wie die gute, fertige Blumentopferde, die er für die Anzucht von Pflanzen für nötig hält.
Sein Saatgut ist einfach da. Wo es herkommt, ist für ihn kein Thema – und dass man sich mit Saatgut selbst versorgen kann, auch nicht.
Heiliger Strohsack!
John Seymour zeigt sich damit ganz als Kind seiner Zeit. Die 1960/70er Jahre waren der Höhepunkt des so genannten „Wirtschaftswunders“, als in der „westlichen“, mit fossiler Energie betriebenen, industrialisierten Welt der (gut gefüllte) Super-Markt-Platz, auf dem man alles kaufen konnte, endgültig die Oberhand gewonnen und die Subsistenzlandwirtschaft zum Aussterben verurteilt hatte.
Diese Jahre waren auch der Höhepunkt (oder sage ich besser: der Tiefpunkt?) des gärtnerischen Gedächtnisverlustes in puncto eigene Saatguterzeugung. Die Möglichkeit, Saatgut selbst zu gewinnen, war vollkommen aus dem Bewusstsein getilgt und es war für jedermann völlig selbstverständlich, Saatgut zu kaufen.
Obwohl John Seymour viel über Kreisläufe und natürliche Zusammenhänge schreibt: Der Kreislauf vom Samen zur Pflanze und wieder zum Samen war ihm (anscheinend) nicht bewusst; auch dem Zusammenhang von eigener Ernte und eigenem Saatgut hat er keine Bedeutung beigemessen.
Diesen „blinden Fleck“ wollte ich dem Selbstversorger John Seymour ankreiden und deshalb ein bisschen auf ihm (und seinen „Followern“) herumhacken.
Dann wäre der Beitrag hier mit einem weiteren Appell an alle Selbstversorger*innen, sich doch bitteschön mit Saatgut möglichst selbst zu versorgen, zuende gewesen; aber ich war noch auf etwas gestoßen, das mich wirklich erstaunte – und das ich deshalb hier auch noch breittreten muss.
Die Vergehen des Otto Maier Verlags und seines Übersetzerteams
Mir schien nämlich, dass die Zielrichtung von John Seymours Buch in der deutschen Erstsausgabe (und damit in allen folgenden auch) ziemlich arg verfälscht wurde.
Es wunderte mich außerdem, dass dies (anscheinend) bisher niemandem aufgefallen ist.
Weil ich kein professioneller Rezensent bin, würde ich gerne wissen, ob Buch-Kritiker*innen bei Übersetzungen auch das jeweilige Original zur Hand nehmen, um auch die Qualität der Übersetzung zu prüfen? (Vielleicht kann mir dazu mal ein*e Expert*in einen Hinweis geben…)
Übersetzungsmängel reihenweise
Eigentlich bin ich auf die genannte „Manipulation“ nur durch Zufall gestoßen.
In der Einleitung meiner lizensierten Erstausgabe las ich auf Seite 7 folgendes: „Der sogenannte ‚Selbstversorger‘, der in einer Unzahl von Rüben und Disteln sitzt und philosophiert, sollte in die Stadt zurückkehren. Er leistet überhaupt nichts Gutes und bewohnt Land, das von jemandem bewohnt werden sollte, der es wirklich gebrauchen kann.“ (genau so steht es auch im Januar 2020 noch in der neuesten Ausgabe von „Das neue Buch vom Leben auf dem Lande“)
Die Aussage „Der sogenannte ‚Selbstversorger‘, der in einer Unzahl an Rüben und Disteln sitzt…“ machte mich stutzig: Was ist an einem Selbstversorger auszusetzen, der in einer Unzahl von Rüben sitzt? Dass auch jede Menge Disteln dabei sind, kann passieren; aber ein zentrales Selbstversorgerziel ist doch erreicht: jede Menge Rüben zu ziehen.
Da Seymour das Buch ja nicht in Deutsch verfasst hatte, wollte ich seine originalen Aussagen kennenlernen, um zu erfahren, ob er diesen Widerspruch selbst zu verantworten hat (dann hätte ich ihm den auch noch vorwerfen können).
Ich beschaffte mir also das Original (um kurz darauf festzustellen, dass ich es schon vor einiger Zeit als PDF auf meine Festplatte übertragen hatte (wer es braucht: Email an mich).
Was hatte John Seymour an dieser Stelle nun selbst geschrieben?
„The so-called-’self-supporter‘ sitting among a riot of docks and thistles talking philosophy ought to go back to town. He is not doing any good at all, and is occupying land which should be occupied by somebody who can really use it“ steht in der Originalausgabe.
„…a riot of docks and thistles…“
Es machte ein klein wenig Mühe, die Bedeutung von „docks“ zu finden; aber ich fand sie: Im Deutschen sagt man „(Sauer)Ampfer“ – und das macht bedeutend mehr Sinn als „Rüben“.
„Jemand, der ein Grundstück besetzt, es aber von Ampfer und Disteln überwuchern lässt und schwadroniert, ist nur ein sogenannter ‚Selbstversorger‘, der in die Stadt zurück gehen sollte. Er tut ganz und gar nichts Gutes und besetzt Land, das er lieber jemandem überlassen sollte, der es wirklich nutzen kann.“
So würde ich die Stelle verstehen.
Ich überprüfte noch eine weitere Aussage der Einleitung, die mir merkwürdig vorkam; sie lautet: „Ich kannte eine Frau, die die besten im Freien gewachsenen Tomaten erntete, die ich je gegessen habe. Und zwar in einem Glaskasten im zwölften Stock eines Hochhauses. Das war zu hoch für die Abgase.“
Wird der Geschmack von Tomaten überhaupt irgendwie übermäßig von Abgasen beeinflusst? Außerdem wehen die Abgase einer Stadt sicher auch in den 12. Stock.
Wieder überprüfte ich die Stelle im Original: „I knew a woman who grew the finest outdoor tomatoes I ever saw in a window-box twelve storeys up in a tower-block. They were too high up to get the blight.“
„Ich kannte eine Frau, die die feinsten Freiland-Tomaten in einem Blumenkasten im zwölften Stock eines Hochhauses zog, die ich jemals gesehen habe. Sie wuchsen zu hoch, um die Braunfäule zu kriegen.“ ist meiner Ansicht nach die korrekte Wiedergabe dieser Geschichte.
Ich weiß nicht, wie das Übersetzerteam „Braunfäule“ (blight) und „Abgase“ verwechseln konnte? Von Ackerbau und Viehzucht scheint es keinen blassen Schimmer gehabt zu haben…
Nun, wird sich manche*r denken: Das sind doch Kleinigkeiten, dafür musst Du doch nicht solch einen Wind machen!
Ja, das gebe ich zu, mit solchen Übersetzungsfehlern (von denen es allerdings noch jede Menge gibt neben zahlreichen Abschnitten, die einfach gestrichen wurden) hätte ich leben können; aber der Hammer kommt noch, wartet ab.
Das Original „The complete book of self-sufficiency“ und seine Zielrichtung
Nach diesen ersten Irritationen beschäftigte ich mich ebenfalls intensiver mit dem Rest der einführenden Worte im Original, um sie auf Diskrepanzen zur deutschen Übersetzung zu prüfen.
Als erstes versuchte ich jedoch das, was jede*r gute Übersetzer*in tun sollte: Ich versuchte, den Sinn des Buches zu verstehen, wie er in Titel und Einleitung oder an anderen Stellen zum Ausdruck kommt.
Welche Absicht hat John Seymour mit seinem Buch verfolgt? Was wollte er seinen Leser*innen mitteilen?
Der Originaltitel lautet „The complete book of self-sufficiency“. Ich musste also erst einmal herausfinden, was unter „Self-sufficiency“ im Englischen verstanden wird.
In Online-Wörterbüchern fand ich natürlich Übersetzungen wie „Selbstversorgung“ und „Autarkie“; aber ich fand auch „Selbstständigkeit“, „Eigenständigkeit“ und „Selbstgenügsamkeit“.
Das Cambridge-Wörterbuch erklärt „Self-sufficiency“ in zwei Bedeutungen:
- „The quality or state of being able to provide everything you need, especially food, without the help of other people or countries“
Die Eigenschaft oder der Zustand, in der Lage zu sein (die Fähigkeit haben), sich alles zu verschaffen, was man braucht, insbesondere Nahrung, ohne die Hilfe anderer Menschen oder Länder - „The quality of being able to take care of yourself, to be happy, or to deal with problems, without help from other people“
Die Eigenschaft, in der Lage zu sein (die Fähigkeit haben), sich um sich selbst zu kümmern, glücklich zu sein, oder mit Problemen umgehen zu können (klarzukommen), ohne die Hilfe von anderen
In der englisch-sprachigen Wikipedia wird „Self-sufficiency“ direkt auf „Self-sustainability“ weitergeleitet. „Self-sustainability“ ist wohl mit „Selbsterhaltung“ am treffendsten übersetzt.
Nach dem Studium einiger Videos von kirchlichen Predigern, Einrichtungen staatlicher Familienhilfe sowie Psychologen, die alle „Self-sufficiency“ im Titel führen, sowie einiger Worte, die synonym sein sollen (autonomy, self-direction, independence, self-dependence, self-reliance, self-subsistence, self-support), habe ich den Bedeutungsgehalt noch um „Selbstzufriedenheit“, „Selbstbewusstsein“, „Selbsthilfe“, „Selbstachtung“ und „Selbstbestimmung“ erweitert.
John Seymour benutzt in seinem Buch neben „Self-sufficiency“ (self-sufficient) vor allem das Wort „Self-supporting“ (Self-supporter).
„Sufficient“ wird zumeist mit „ausreichend, genügend, hinlänglich“ ins Deutsche übertragen, „to support“ mit „(unter)stützen, fördern, (aufrecht)erhalten“.
Das englische Wort „Self-sufficiency“ umfasst meines Erachtens also wenigstens zwei Bedeutungen, die klar zu unterscheiden sind:
- stehen die Stärken und Fähigkeiten eines Selbst, des Subjekts, im Blickpunkt. Das Bewusstsein, sich selbst helfen, selbst etwas schaffen, bewältigen oder auch ertragen zu können, aber auch mit etwas auskommen, zurechtkommen, zufrieden sein zu können, ist zentral. Der Schwerpunkt liegt auf dem Subjekt selbst und seinen Eigenschaften.
- steht die Unabhängigkeit eines Selbst, des Subjekts, von anderen Menschen im Mittelpunkt. Das Bewusstsein, keine Hilfe von außen nötig zu haben, keine Dinge von anderen zu brauchen, möglichst alles allein schaffen zu können, ist zentral. Der Schwerpunkt liegt auf dem Unabhängig-sein des Subjekts von der Außenwelt.
Das Wort „Self-sufficiency“ besitzt also einen recht weit gefassten Bedeutungsgehalt.
Für mich stellte sich nun die Frage: Ist das Wort „Selbstversorgung“ die adäquate Übertragung von „Self-sufficiency“ ins Deutsche?
Das deutsche Verständnis von „Selbstversorgung“
Dazu gilt es erst einmal zu ergründen, was die meisten Deutsch-Sprachigen unter „Selbstversorgung“ verstehen.
Ich möchte Dich bitten, Dich selbst kurz zu fragen, wie Du das deutsche Wort „Selbstversorgung“ verstehst?
Ich wage zu behaupten, dass im Deutschen unter „Selbstversorgung“ allein der obige, zweite Punkt verstanden werden kann und auch immer nur verstanden wird: Die Versorgung mit möglichst vielen/allen lebensnotwendigen, materiellen Gütern aus eigener Kraft, die Unabhängigkeit von einer „Außenwelt“ (die Aussage „Die Menschheit möge Selbstversorgung anstreben“ macht aus diesem Grunde wenig Sinn).
Der Begriff „Selbstversorgung“ zielt im Deutschen eindeutig darauf, unabhängig von anderen zu sein, von der Welt, vom Markt oder von der schlechten Versorgung durch die Staatsführung.
„Selbstversorgung bezeichnet in erster Linie eine autonome – von anderen Personen, Gemeinschaften, Institutionen oder Staaten unabhängige – Lebensführung bzw. Subsistenzweise, bei der Produzenten und Konsumenten identisch sind“ beschreiben die Autoren der deutschen Wikipedia „Selbstversorgung“.
Auch das Schriftchen „Jedermann Selbstversorger“ des Landschaftsarchitekten Leberecht Migge aus dem Jahr 1918 zeigt meines Erachtens sehr deutlich das deutsche Verständnis von „Selbstversorgung“.
In (und nach) den beiden Weltkriegen wurde in Deutschland die Selbstversorgung als nationale Rettungstat propagiert: Autarkie wurde für den Kampf gegen die böse (Außen)Welt angestrebt.
Noch ein hübsches Beispiel für das deutsche Verständnis von „Selbstversorgung“ bietet die Übersetzung eines britischen Plakats aus Kriegszeiten in der deutschen Wikipedia; dieses Plakat verbildlicht sehr schön die Aufforderung „Grow your own food“.
„Grow your own food“ wird dort mit „Baue Dein Essen selber an“ übersetzt.
Wo der Brite meint: „Baue (so viel) eigenes Essen (wie möglich) an“ versteht der Deutsche: „Baue Dein (gesamtes) Essen selber an“.
Es deutet für mich nichts darauf hin, dass mit „Selbstversorgung“ auch die „Versorgung der eigenen Persönlichkeit“, die „Selbst-Versorgung“, wie es einmal im Vorwort vom „Leben auf dem Lande“ heißt, gemeint sein könnte.
Die Einschränkung der vieldeutigen Begriffe „self-sufficiency“ und „self-supporting“ auf den eindeutigen Begriff „Selbstversorgung“ möchte ich hiermit eindeutig als Verfälschung bezeichnen.
Die Titel-Lüge
Nun hätte als Titel der deutschen Übersetzung „Das vollständige Buch der Selbstversorgung“ gewählt werden können – was ja schon eine Irreführung wäre, wie ich eben gezeigt habe; aber sie wurde mit „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ überschrieben.
Mit diesem Titel wird die falsche Fährte, die mit der „Selbstversorgung“ gelegt wurde, zu einer Einbahnstraße in einem Tunnel ohne Umkehrmöglichkeit: Jede*r unbefangene Leser*in muss denken, das Buch sei eine Anleitung für ein unabhängiges Leben auf dem Lande, das durch Selbstversorgung ermöglicht wird.
Und so wurde es auch gesehen, wie m. E. eine damalige Besprechung des Buches in der Wochenschrift „Der Spiegel“ beweist.
Aber ist es das, was John Seymour tatsächlich sagen wollte?
In Vorwort und Einleitung ist die Zielrichtung klar und deutlich zu lesen; aber ich glaube, dass es ungeheuer schwer ist, noch Feinheiten zu erkennen, wenn man erst einmal durch einen derart knalligen Titel geblendet wurde.
Hilfe beim Verständnis von „Self-sufficiency“
Vielleicht kann ich die „Wahrheit“ sichtbar machen, indem ich ein paar Aussagen herauspräpariere, die John Seymours Absichten ziemlich deutlich machen, der „Sinngebung“ des Otto Maier Verlages aber ziemlich eindeutig widersprechen:
In der Originalausgabe sind die ersten Sätze (siehe Abbildung oben) folgende: „The first questions we must answer are: What is this book about? What ist self-sufficiency, and why do it?“ Es ist davon auszugehen, dass alles, was nach diesen Sätzen folgt, den Sinn des Buches beschreiben soll.
Was tut der deutsche Verlag? Er streicht diese Sätze ersatzlos!
Nicht, dass der deutsche Leser denken könnte, in der Einleitung bekäme er nun „Selbstversorgung“ erklärt! Denn manche der nachfolgenden Aussagen würden schlecht zur Zielrichtung passen, die der Titel vorspiegelt…
Der nächste Satz lautet nämlich original: „Now self-sufficiency is not ‚going-back‘ to some idealized past in which people grubbed for their food with primitive implements and burned each other for witchcraft.“
Das heißt: In diesem Buch geht es nicht um ein Zurück in die Vergangenheit, zu einer idealisierten Subsistenzwirtschaft mit dem dazugehörigen Aberglauben…
Seymour schreibt weiter: „Self-sufficiency is not only for those who have five acres of their own country. The man in the city apartment who learns to mend his own shoes is becoming, to some extent, self-sufficient“.
Übersetzt: ‚Self-sufficiency‘ (ja, in der deutschen Übersetzung steht hier ‚Selbstversorgung‘!) ist nicht nur für diejenigen, die fünf Morgen Land ihr eigen nennen; auch der Mensch in einer Stadtwohnung, der lernt, seine Schuhe zu flicken, wird bis zu einem gewissen Grad ’self-sufficient‘ (auch hier steht natürlich ‚Selbstversorger‘)“.
Darüber hinaus sind für ihn auch der Stadtmensch, der Korn kauft, es mahlt und Brot bäckt, und der Vorstädter, der in seinem Garten ein paar Kohlköpfe zieht, „Self-supporter“ (auch diese werden von den Übersetzern umstandslos zu „Selbstversorgern“ gemacht).
Jeder dieser „Selbstversorger“ spart durch seine Selbst-Tätigkeit nicht nur Geld, sondern vermehrt dadurch auch die eigene Zufriedenheit und Selbstachtung (Seymour: Not only does he save money, he increases his own satisfaction and self-respect too).
Heiliger Bimbam!
Darum geht es! Um eigene Zufriedenheit und Selbstachtung!
Kein Wort von einer „Selbstversorgung auf dem Lande“, mit der man sich selbst oder die Welt retten könnte!
Ja, ich rege mich auf; doch dann höre ich mir diese beiden Iren an, die wirklich so leben, wie sich viele Möchtegern-Selbstversorger*innen „Selbstversorgung“ vorstellen, und die erklären, warum sie keine Selbstversorger sind und auch keine sein wollen… … dann beruhige ich mich wieder…
Aber noch ein paar Worte von John Seymour selbst: „And if every reader of this book learns something useful to him that he did not know before, and could not very easily find out, than I shall be happy…“
John Seymour wäre glücklich gewesen, wenn jeder Leser seines Buches etwas für ihn Nützliches gelernt hätte, das er vorher nicht wusste oder nicht leicht hätte herausfinden können… (zu jener Zeit war es ja nicht so leicht, dieses vergangene Wissen auszugraben wie heute, wo so viel früheres Wissen digitalisiert oder verfilmt frei im Internet zu finden ist; mich hat damals besonders Seymours Beschreibung der Käseherstellung interessiert und schlauer gemacht!)
Wem die Sinnentstellung der deutschen Übersetzung und ihre fatale (falsche) Fixierung auf „nach Autarkie strebende Selbstversorgung“ und „Landleben“ bis hierher immer noch nicht ersichtlich genug ist, dem muss einfach der folgende Abschnitt aus dem Vorwort, das E. F. Schuhmacher (der Autor von „Small is beautiful“) verfasst hat, endgültig die Augen öffnen; denn deutlicher kann man es nicht mehr sagen.
(Ich zitiere den Auszug im Original, da er in der deutschen Übersetzung durch eine wichtige Auslassung nahezu unverständlich ist; darunter gibt es meine Übersetzung) „Should I try to grow all the food my family and I require? If I tried to do so, I probably could do little else. And what about all the other things we need? Should I try to become a Jack of all trades? At most of these trades I would be pretty incompetent and horribly inefficient. But to grow or make some things by myself, for myself: what fun, what exhilaration, what liberation from any feelings of utter dependence on organizations! What is perhaps even more: what an education of the real person!“ (Hervorhebung im Original in kursiv)
„Sollte ich versuchen, alle Lebensmittel, die meine Familie und ich brauchen, selbst anzubauen? Wenn ich das versuchen würde, könnte ich wahrscheinlich kaum noch etwas anderes tun. Und was ist mit all den anderen Dingen, die wir nötig haben? Sollte ich ein Meister aller Handwerke werden? In den meisten Fällen würde ich ziemlich unfähig und schrecklich ineffizient sein. Aber etwas anzubauen und ein paar Dinge selbst zu machen, für mich selbst: Welch ein Spaß, welches Hochgefühl, welch eine Befreiung von jeglichem Gefühl totaler Abhängigkeit von Organisation! Vielleicht sogar mehr: Welch ein Entwicklungsschub für die Ausbildung der wahren Persönlichkeit!“
Jede*r kann gerne auf dem Lande leben und sich dort selbst versorgen; hier geht es nur darum, was John Seymour mit seinem Buch sagen wollte.
Ich meine, dass es ihm auf keinen Fall um „Selbstversorgung“ oder um ein „Leben auf dem Lande“ oder um das Stillen einer Sehnsucht „nach einem Leben mit und in der Natur“ ging.
John Seymour wollte mit seinem Buch jedem die Möglichkeit bieten, sich als Schaffenden zu erleben, der Einfluss auf sein eigenes Schicksal und auf das der Welt nehmen kann. Er wollte, dass alle Menschen sich gut und stark fühlen und die Welt mitgestalten; er hat nicht dazu aufgerufen, sich abzukapseln und zu isolieren. Ist meine Meinung.
Ich hoffe, diese wenigen „Erhellungen“ reichen, um das deutsche Machwerk als üble Fälschung bezeichnen zu dürfen.
„Das neue Buch vom Leben auf dem Lande“ – ist leider (fast) das alte
Die zuvor enthüllte „Falschausgabe“ vom Otto Maier Verlag ist leider weder bei der nachfolgenden „Neuausgabe“ von 2004, die auf der ergänzten, englisch-sprachigen von 2003, „The new complete book of self-sufficiency“, basiert, noch bei der (letzten) Neuauflage im Januar diesen Jahres, die wiederum nur eine erweiterte Ausgabe derjenigen von 2004 ist, durch eine wahrheitsgetreuere ersetzt worden: Der alte, falsche Quark wird noch einmal als „Das neue Buch vom Leben auf dem Lande“ angepriesen.
Und schlimmer noch, der Verlag nutzt und verstärkt die bisherige, unzutreffende Auslegung des Buches, indem er es exzessiv im falsch verstandenen Sinn bewirbt: „Die „Selbstversorger-Bibel“ von John Seymour!… …Zurück zur Natur: ein Rundum-Einblick in das Thema Selbstversorgung!… …Der unverzichtbare Klassiker für Selbstversorger und alle, die es werden wollen…“
Immer noch wird so getan, als ginge es im Buch darum, möglichst viele der beschriebenen Tätigkeiten auszuführen, sich möglichst vollständig selbst zu versorgen und auf dem Lande zu leben.
Dabei hat John Seymour selbst kurz vor seinem Tode in die überarbeitete Ausgabe von 2003 noch für alle, die dem besagten Missverständnis aufsitzen (und das sind selbstverständlich auch zahlreiche Menschen im englisch-sprachigen Raum), extra ein Kapitel „Becoming a Self-Supporter“ angehängt, in dem er konkrete Schritte zur „Selbst-Versorgung“ aufzählt.
Ein ganz wichtiger Aspekt dieses Kapitels ist, dass auch bei der „Selbst-Versorgung“ ein Austausch mit der Gesamt-Gesellschaft notwendig ist.
Ich zitiere von den Seiten 390/91 der Neuausgabe:
„…[Die ‚Aussteiger‘, die scheitern,] versuchten auch, nur mit ein oder zwei Produkten Geld zu verdienen, was einfach nicht funktionieren kann. Traditionelles Landwirtschaften hat sich überlebt. Die Bauern, die ihr Land und ihren Besitz von ihren Familien erbten, haben ausgedient. Es wird zwar noch eine lange Zeit dauern, bevor sie aufgeben müssen und verschwinden, und es wird ein unschöner und trauriger Vorgang sein – aber die industrielle Welt, die die Regeln aufstellt, hat keine Zeit für die herkömmliche Landwirtschaft.“ (S. 390)
Die absolute Notwendigkeit von Erwerbsarbeit wird unter dem Punkt „What money earning activity“ der beigefügten Checkliste (S. 391) noch einmal deutlich betont: „Das ist eine Frage von äußerster Wichtigkeit… …Vielleicht bist Du jemand von der entschiedenenen Sorte, der sagt: ‚Mein Beruf in der Stadt im Hundesalon ist sowieso nicht mehr gefragt – ich lerne etwas Neues.‘ Bedenke, dass es nie genug Handwerker auf der Welt gibt: Klempnern, Elektrik, Mechanik, Tischlern, Korbflechten und dergleichen kann man lernen. Viele Menschen aus der Stadt haben jedoch auch Fertigkeiten wie Computeranwendung, Buchführung, Marketing, Krankenpflege und Unterrichten, die auf dem Land gebraucht werden.“
Auch John Seymour hat sich und seine Familie nie von seiner kleinen Landwirtschaft ernährt, sondern sein Geld vor allem als Journalist und Schriftsteller, später auch als Kursleiter verdient.
John Seymour hat die Probleme der modernen Welt mit ihrer zunehmenden Arbeitsteilung und Vereinzelung gesehen (und sicher auch selbst an ihnen gelitten). Vielleicht hat er auch davon geträumt, die industrielle Entwicklung und die damit zusammenhängende Landflucht möge in den „unterentwickelten“ Ländern aufhören (siehe die obigen Videos) oder seine „Selbst-Versorger“ könnten das Land in den entwickelten Ländern wiederbeleben; aber ganz sicher war er nicht so weltfremd anzunehmen, Selbstversorgung (Abkapselung) könnte die (Umwelt)Probleme der modernen Industriewelt und Landbewirtschaftung lösen oder sei gar eine Alternative zu dieser Welt.
Die Haltung des John Seymour wird meiner Meinung nach im Buch sehr, sehr klar; aber man muss es unter den genannten, verfälschenden Vorzeichen leider sehr, sehr genau lesen.
Das „Neue Buch vom Leben auf dem Lande“ und was ich davon halte
Die Neuausgabe stimmt, wie schon erwähnt, zu großen Teilen mit der Originalausgabe bzw. mit der ergänzten Version von 2004 überein.
Einzig neu sind die ausführlichen Kapitel über den Gemüse- und Obstanbau, die nicht von John Seymour stammen, die das Buch aber noch mehr als echten, praktischen Ratgeber erscheinen lassen.
Ansonsten wurden nur kosmetische Korrekturen – ein „Face-Lifting“ beim Schönheitschirurgen – vorgenommen.
Das ist auch an der Bearbeitung des Textes zu erkennen: Beim Vergleich mit der Originalausgabe (ich habe nur die Einleitungen genauer verglichen) ist zu erkennen, dass der Text bearbeitet wurde, aber in einer geradezu lächerlichen Art und Weise; so wurde z. B. „nur“ gegen „allein“ ausgetauscht oder „Ein gutes Stück städtischen Gartens“ wurde „Ein gutes Gartenstück in der Stadt“.
Die krassen Fehler aber, die ich z. B. oben erwähnt habe, wurden belassen; deshalb kann ich auch in der neuesten deutschen Ausgabe nicht lesen, ohne sie ständig mit der englischen zu vergleichen.
Wie gesagt: Die Übersetzung ist unerträglich schlecht, aber möglicherweise mit Absicht.
Ich hoffe darauf, dass die nächste Ausgabe (sofern es noch eine geben wird) wirklich gründlich überarbeitet wird, dass wenigstens alle groben Übersetzungsfehler beseitigt werden – und vielleicht auch das Wort „Selbstversorgung“ hier und dort durch andere ergänzt wird, die den Intentionen des Autors gerechter werden, dass sie mehr auf „Selbst-Versorgung“ und weniger auf „Selbstversorgung“ ausgerichtet wird; aber ich fürchte, der geschäftliche Erfolg der bisherigen Übertragung wird das nicht nötig machen.
Das einzig Wahre: die Original-Ausgaben
Wenn Ihr, liebe Leser*innen, die „deutsche“ Vorstellung von Selbstversorgung aus Eurem Bewusstsein löschen könnt und stattdessen „Spaß am Tätigsein, an Handarbeit, an praktischer Land- und Gartenarbeit, an Selbstständigkeit, am bewussten, achtsamen Umgang mit Euch selbst und Eurer Umgebung“ dafür einsetzen könnt, wenn Ihr Euch selbst oder die Welt nicht durch „Selbstversorgung“ retten wollt, sondern Spaß an der Stärkung Eures Selbst (Selbst-Versorgung!) habt, dann kann es nicht von Schaden sein, sich die Neuausgabe anzuschaffen.
Aber wegen der miserablen Übersetzung lautet meine Empfehlung: Ladet Euch das Original herunter (so lange es geht) oder kauft es Euch! (Ihr könnt Euch auch die Neuausgabe im Original besorgen)
Nur: Tretet die deutsche Übersetzung in die Tonne!
John Seymour ist für mich rehabilitiert, auch wenn er die Bedeutung der eigenen Saatguterzeugung nicht erkannt hat (aber er hatte ja auch keine Selbstversorgung im Sinn!). Ich kann sein Werk nun unbefangener zur Hand nehmen und die vielen Dinge, die er beschreibt, als interessante, manchmal vielleicht auch nützliche Informationen werten (die aber heute oft besser – originaler – in den vielen Digitalisaten alter Landwirtschafts– und Gartenbücher zu finden sind).
Zum Schluss möchte ich den Kreis schließen: Die eigene Saatgutgewinnung und die damit verbundene Vermehrung der genetischen Vielfalt der Nutzpflanzen ist nicht nur eine befriedigende, eigene Tätigkeit und das Wiederherstellen eines natürlichen Kreislaufs im Sinne des John Seymour, sondern auch eine zum Wohle der Menschheit (in einer zukünftigen Post-Marktwirtschaft).
Anmerkungen:
* Da auch negative Kritik Werbung ist, gestehe ich hiermit, dass ich mir ein Rezensionsexemplar vom Verlag erbeten – und es auch bekommen habe, wofür ich recht herzlich danke.
Teile der Familie von John Seymour leben noch heute auf seiner Farm in Pembrokeshire (Wales), die heute „Pantry Fields“ genannt wird.
Die „Self-Sufficiency-Kurse“, die John Seymour ab 1996 in Killowen, nahe New Ross in County Wexford (Irland), gegeben hat, werden dort weiterhin von seinem Mitstreiter William Sutherland angeboten.
John Seymour: Das neue Buch vom Leben auf dem Lande (Blick ins Buch)
ISBN 978-3-8310-3896-1
Januar 2020
408 Seiten, 225 x 284 mm, fester Einband
26,95 €
Über 800 zum Teil farbige Illustrationen
Hallo Hallo!
Da war ich aber sehr froh, das das Buch hier dann doch nicht durch den Kakao gezogen wurde.
Vielen Dank dafür! Mit Rüben und Disteln hatte ich jetzt keine Schwierigkeiten, weil man ja auch sagt:
Hier siehts aus wie Kraut und Rüben… Unordnung die zu nix Nutze ist. Aber das mit den Tomaten war mir schleierhaft. Dachte, da fehlt was von der Ûbersetzung… Prima,das Du Dich dahinter geklemmt hast!!!
Troz allem….wenn ich mal jemanden beneidet habe—- dann John Seymour —-
Da war es doch sehr tröstlich fur mein Gärtnerherz zu lesen, das selbst ER nicht vollständig vom eigenem Anbau gelebt hat! (Das macht Misserfolge doch etwas hoffnungsfroher) Prima, dieser Bericht !
Gruss von Ina
Liebe Ina,
danke für Deinen Kommentar!
Es freut mich, dass Dir meine „Untersuchung“ gefallen hat! Ich bin auch froh, mir das Buch mal genauer angeschaut zu haben (früher habe ich nur hier und dort darin gelesen); denn als Sammlung interessanter Infos finde ich es sehr schön (gemacht). Ich hoffe deshalb, dass es sich irgendwann herumspricht, dass das Buch keine Anleitung zur Selbstversorgung ist – und sowohl überschwängliche Begeisterung für eine angeblich praktische Anleitung als auch kopfschüttelnde Ablehnung der angeblich rückständigen Träumereien dem Buch unrecht tun.
Viele Grüße
J:)rgen
Guten Dienstag, lieber Jürgen !
Ja, da hast du recht. Ich habe das Buch damals sehr gründlich gelesen und gedacht:
Junge, Junge! Wer das wirklich heute alles so machen will der darf sich entweder keine Familie anschaffen_ oder muss eine haben, die voll mitmacht. Zwar habe ich genug Kinder, samt Mann—–aber Gartenbegeisterung findet nur dann statt, wenn die Erdbeeren schön rot leuchten.
:) :) Es ist toll, das altes Wissen auch heute noch zugänglich ist und das gemischt werden kann mit leichteren Hilfen und zeitsparenden Ideen. Ich wünsche Dir ein gutes, gesundes neues Jahr
und das Du auch 2021 noch im Garten und Internet werkeln kannst.
Ina