Ich werde Stachelbeerzüchter
Und kein Rosenzüchter.
So viel ist schon mal klar. Ich hab’s eben mehr mit den Nutz- als mit den Zierpflanzen.
Aber warum gerade Stachelbeeren? Warum nicht eine der vielen anderen Obstarten, die ich bisher aus Samen gezogen habe? Warum will ich als Rentner nicht Erd- oder Johannisbeeren, Him- oder Brombeeren, Pflaumen, Pfirsiche, Aprikosen, Kirschen, Äpfel oder Birnen züchten?
Um ehrlich zu sein: Wär‘ ich Millionär, würde ich alle genannten Obstarten „züchten“, d.h., tausende Büsche und Bäume aus Samen ziehen, um dann irgendwann beim Probieren und Dokumentieren wahnsinnig zu werden; aber ich bin nun mal kein Millionär, ich muss also „kleinere Brötchen backen“, weil mein Landbesitz sehr limitiert ist (obwohl für manche Menschen über 2000 Quadratmeter Nutzfläche schon einen „riesigen“ Garten darstellen).
Warum ich weder Erdbeeren noch Äpfel züchten werde
Nun kämen auf meiner kleinen Gartenfläche auch Erdbeeren als „Zuchtobjekte“ in Frage; doch Erdbeeren machen durch ihre Gewohnheit, sich durch Ausläufer (Ableger, vegetativ) selbstständig (selbst, ständig?) zu vermehren, jede Menge Zusatzarbeit, die man nicht mal einfach ein wenig ruhen lassen kann: Zu schnell verliert man dann die Übersicht – und schon ist die ganze Zucht „für die Katz'“.
Das gleiche gilt für Himbeeren; auch sie vermehren sich ungehemmt durch Wurzelausläufer. Dazu kommt bei Himbeeren und Brombeeren das, was für Johannisbeeren gilt.
Johannisbeeren wären von der Größe her und damit vom Platzbedarf eine Option; aber ich finde ihr Aussehen zu einheitlich: die schwarzen sind immer schwarz, die roten rot und die weißen weiß (ok, es gibt auch noch rosa-farbene, die immer rosa sind). Ihre bemerkenswerten Unterschiede bestehen einzig und allein im Geschmack, der Größe der Beeren und der Länge der Rispen (die Wuchsform des Busches sowie seinen Gesundheitszustand, die zwar auch variabel sind, finde ich noch weniger interessant).
Dieser Umstand macht mir auch Him- und Brombeeren nicht genug sympathisch.
Die Früchte von Aprikosen-, Pfirsich-, Kirsch-, Birnen- und Apfelbäumen unterscheiden sich zwar beträchtlich in Form, Farbe und Geschmack und kämen insofern meinen züchterischen Ansprüchen entgegen; aber der Anbau von hunderten Bäumen einer dieser Obstarten scheitert, wie gesagt, an ihrem immensen Platzbedarf – und außerdem an dem Zeitraum, den sie bis zum ersten Fruchtertrag wachsen müssen: Unter fünf bis zehn Jahren ist da kaum etwas zu machen – und das ist bei einem über 60-jährigen wie mir doch schon ein (weiteres) begrenzendes Kriterium.
Die Gründe für’s Stachelbeerzüchten
Bleiben also nur die Stachelbeeren: Sie tragen nach zwei bis drei Jahren erste Früchte, brauchen wenig Platz und kommen meiner Vorliebe für unterschiedliche Farben entgegen. Gibt es doch fast schwarze, rote, gelbe, grüne bis fast weiße Stachelbeeren. Auch ihre Form und Behaarung kann stark differieren.
Außerdem bin ich sicher, dass es einige Hobby-Gärtner*innen gibt, denen die Auswahl zwischen „Hinnonmäki rot“ und „Hinnonmäki grün“ ein wenig zu einfach ist, die sich wieder ein breiteres Auswahlspektrum wünschen. Und für diese (paar) Hobby-Gärtner*innen ist keine private, gewinnorientierte Züchterfirma bereit (und in der Lage), Züchtungsarbeit zu leisten.
Das kann nur so ein kleiner „Spinner“ wie ich, der das aus lauter Spaß an der Freude macht, vielleicht zusammen mit der einen Hobby-Gärtnerin oder dem anderen Hobby-Gärtner, die ich mit meinem Aufruf zur Rettung der Menschheit überzeugen kann. Auf jeden Fall wird meine „Züchtungsarbeit“ nicht durch ein (von mir) definiertes Ziel, sondern allein von „König Zufall“ bestimmt; denn nur er kann mir zeigen, was überhaupt möglich ist.
Die Arbeit des Stachelbeerzüchters
Ich glaube, mit Stachelbeeren möchte ich mich schon vor dem Rentnerdasein ein wenig intensiver beschäftigen, sie genauer kennenlernen, beobachten und dokumentieren.
Einiges an Wissen, das für’s Züchten nötig ist – und damit meine ich wie immer das Entwickeln neuer Sorten und nicht den reinen Anbau, werde ich im folgenden zusammenfassen:
(Johannes Luckan: Beerenobst II. Teil, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren, Brombeeren; Rudolf Bechtold Verlag, Wiesbaden; 1944, S. 8)
Stachelbeeren besitzen also 16 Chromosomen (2 x 8) und sind in der Regel selbstfruchtbar, d.h., der weibliche Teil der Stachelbeerblüte kann durch den männlichen Teil (Pollen) derselben Blüte oder einer anderen Blüte desselben Strauchs befruchtet werden. Der Fruchtansatz soll allerdings besser sein, wenn die Befruchtung durch den Pollen einer anderen Sorte stattfindet.
Bei mir sollte die Befruchtung somit kein Problem sein; denn jeder Strauch meiner Stachelbeerpflanzung ist eine eigene „Sorte“ (natürlich ohne Namen), da sie aus Samen entstanden sind (und nicht durch Stecklinge oder Ableger).
Stachelbeeren vermehren
Steckling: man steckt einfach ein (einjähriges) Zweigstückchen mit seinem „dickeren“ Ende in die Erde. An diesem Ende bilden sich dann nach einer Weile (bei Stachelbeeren oft, aber nicht so regelmäßig wie z.B bei Johannisbeeren) Wurzeln. Aus dem Zweigstück wird somit ein neuer, eigenständiger Busch mit demselben Erbgut (denselben Eigenschaften) wie der Strauch, von dem der Zweig geschnitten wurde.
Ableger: man bedeckt einen auf der Erde liegenden oder zur Erde gebogenen Zweig teilweise mit Erde; an dieser Stelle bilden sich dann Wurzeln, so dass man dass Teilstück oberhalb der Wurzeln (mitsamt den Wurzeln natürlich!) im folgenden Jahr abtrennen und wie einen neuen Busch behandeln kann; seine Eigenschaften gleichen (in der Regel) exakt denen der „Mutterpflanze“.
Samen: Wenn Früchte von den Stachelbeersträuchern abfallen, kann man sicher sein, dass an dieser Stelle im darauf folgenden Jahr ein paar Sämlinge keimen werden. Man kann die Stachelbeeren aber auch selbst unter die Erde bringen (nur nicht zu tief). Man sollte die Stachelbeersamen auf keinen Fall trocknen, um sie aufzubewahren; dadurch verlieren die meisten ihre Keimfähigkeit. Die Samen sind am besten immer frisch direkt nach der Ernte auszusäen (auch bei Himbeeren und Johannisbeeren funktioniert nur diese Methode einwandfrei).
Trotzdem würde ich mich freuen, wenn mir Menschen, die ungewöhnlichere Sorten als die beiden Hinnonmäkis in ihrem Garten kultivieren, ein paar Früchte oder Samen ihrer Stachelbeerpflanzen zusenden würden, damit ich die (genetische) Vielfalt meiner Stachelbeersammlung noch erhöhen kann (in Großbritannien, der früheren Züchtungshochburg, und in Russland sowie den umliegenden Ländern sind Stachelbeeren scheinbar noch vielfältig vertreten, so dass ich schon wieder überlege, wie ich an diesen Reichtum gelangen kann).
Ich bin schon sehr erstaunt, welche Vielfalt sich bisher angesammelt hat, obwohl ursprünglich nur ein Stachelbeer-Hochstämmchen mit braun-roten Beeren in meinem Garten vorhanden war. Die Bilder in diesem Beitrag geben davon einen Überblick.
Mittlerweile sprießen zwischen den vorhandenen Büschen jede Menge Sämlinge. Welche Farben und Formen können auf diese Weise noch entstehen? Ich bin gespannt…
Ja, ich bin ganz wild darauf, Spezialist für Stachelbeeren zu werden!
Ob ich dann irgendwann auch noch eine Dokumentation über meine Stachelbeersämlinge verfasse, wie es Lorenz von Pansner 1852 getan hat, der in seinem „Versuch einer Monographie der Stachelbeeren“ 417 Stachelbeersorten beschrieben hat, die er in seinem Garten gezogen hatte, oder ob ich es der Familie Maurer, den „Stachelbeerkönigen“ aus Jena, gleichtun will, die um 1900 in ihrer Gärtnerei 500 Sorten gezogen hat, will ich mal in den Sternen stehen lassen.
Einen kleinen Eindruck früherer Vielfalt erhältst Du in Band 6 „Deutsches Obstcabinet“ von 1856; dort sind einige Sorten auf wunderschönen, kolorierten Abbildungen zu betrachten; aber noch besseren Anschauungsunterricht gibt „Das Stachelbeerbuch“ von Louis Maurer von 1913.
Auf jeden Fall kann sich jeder, der an einer von mir gezogenen Sorte interessiert ist, bei mir melden: Ich werde dann versuchen, ihm einen „Klon“ (Steckling, Ableger) zu ziehen und zuzuschicken (aber auch ein paar Stachelbeeren).
In diesem Jahr habe ich meine „Züchtung“ schon etwas professionalisiert: Ich habe endlich jedem Büschlein eine Nummer gegeben und seinen Platz auf einer „Karte“ markiert. Von jedem Busch habe ich ein paar auffällige Merkmale notiert, wie z.B. seine Mehltau-Anfälligkeit.
Stachelbeerernte und ihre Verwendung
Über sieben Kilogramm Stachelbeeren habe ich am 11. Juli mit Vergnügen gepflückt (das bisschen Pieksen macht mir nichts aus), die größeren Mengen der älteren Büsche gewogen, die gesamte Ernte fotografiert und eine Menge dieser säuerlichen Früchte probiert – und genossen (obwohl keine wirklich überzeugende „Sorte“ dabei war).
Aus dem größten Teil der Beeren habe ich Marmelade gekocht.
Meine Stachelbeermarmeladengläser Nummer 13 bis 15 habe ich mit Minze verfeinert (das Probierlöffelchen schmeckte so, als wäre diese Kombination gelungen).
Ich bin auch auf die Marmelade aus der Mischung von schwarzen Johannisbeeren mit Stachelbeeren (halb und halb) gespannt, die ich heute fabriziert habe.
Schließlich denke ich darüber nach, was sich aus Stachelbeeren außer Marmelade noch machen lässt – Stachelbeer-Chutney fällt mir da z.B. gerade ein oder Warenje (Russische Konfitüre) aus Stachelbeeren, wie ich hier gelesen habe.
Und der Traum vom eigenen Stachelbeerwein ist auch noch nicht ausgeträumt.
Stachelbeerzüchtung und Lebensphilosophie
Bis hierher hatte ich während des Bepflückens meiner kleinen Stachelbeerplantage aus mittlerweile 48, in meinem Garten irgendwo aufgetauchten Sämlingen gedacht.
Dass die Stachelbeerzüchtung auch Anlass zu lebensphilosophischen Fragen sein kann, habe ich meiner Schwester zu verdanken, die sich so viel für Literatur und Philosophie interessiert wie ich für Gartenbau und Pflanzenzüchtung (vielleicht sogar noch ein bisschen mehr).
Als ich meiner Schwester beiläufig bei ihrem letzten Besuch im Garten von meinen „Plänen“ hinsichtlich der Stachelbeerzüchtung erzählte, sagte sie begeistert: „Das klingt ja wie der Stachelbeerzüchter bei Tschechow?!“
„Was, es gibt wirklich einen Stachelbeerzüchter in der Literatur?“ fragte ich sie, „das ist ja großartig, ein Grund mehr, Stachelbeerzüchter zu werden!“
„Bei Tschechow ist das aber eher eine traurige Figur“, gab sie zu bedenken.
„Das ist mir egal; wichtig ist mir, dass es ihn überhaupt gibt, den Stachelbeerzüchter. Ich will die Geschichte aber auf jeden Fall mal lesen!“
Tschechows Stachelbeeren
Sie schickte mir dann bald die Geschichte „Die Stachelbeeren“ von Anton Tschechow (1860-1904) und ich erfuhr eine Menge über den Sinn des Lebens, über den ich mir zumeist keine großen Gedanken mache.
Nachfolgend die von mir extrahierte Quintessenz von „Die Stachelbeeren“:
…, unsere Kindheit verlebten wir auf dem Lande in völliger Freiheit. Wie die Bauernkinder verbrachten wir Tag und Nacht auf dem Feld und im Wald, wir hüteten Pferde, schälten Bast, fingen Fische und dergleichen mehr… Sie wissen ja, wer auch nur einmal im Leben einen Kaulbarsch gefangen oder im Herbst die davonfliegenden Drosseln beobachtet hat, wenn sie an klaren kalten Tagen in Schwärmen über das Dorf ziehen, der taugt nicht mehr zum Städter, und bis zu seinem Tode wird es ihn in die Freiheit ziehen. Mein Bruder verzehrte sich in seinem Steueramt vor Sehnsucht… Diese Sehnsucht verwandelte sich nach und nach in einen bestimmten Wunsch, in den Traum, sich einen kleinen Gutshof zu kaufen, irgendwo am Ufer eines Flusses oder Sees.
Er war ein gutmütiger, sanfter Mensch, ich mochte ihn gern, aber diesen Wunsch, sich für das ganze Leben auf einem eigenen Landgut zu vergraben, konnte ich nie nachfühlen. Man sagt zwar, der Mensch brauche nur drei Arschin Erde. Aber drei Arschin Erde braucht doch der Leichnam, nicht der Mensch. Und man sagt jetzt auch, es sei gut, dass unsere Intelligenz den Drang nach Landbesitz verspüre, dass es sie auf die Gutshöfe ziehe. Aber diese Gutshöfe sind doch dasselbe wie die drei Arschin Erde. Die Stadt zu verlassen, dem Kampf, dem Getümmel des Lebens zu entfliehen und sich auf einem Gut zu verstecken – das ist kein Leben, das ist Egoismus, das ist Trägheit, ein Mönchtum besonderer Art, aber ein Mönchtum ohne Heldenmut. Der Mensch braucht nicht drei Arschin Erde, kein Landgut, sondern den ganzen Erdball, die ganze Natur, wo er alle Eigenschaften und Besonderheiten seines freien Geistes ungehindert entfalten kann.
…
Mein Bruder Nikolaij kaufte … hundertzwölf Desjatinen Land mit einem Herrenhaus, einem Gesindehaus und einem Park…
…
Im vergangenen Jahr habe ich ihn besucht. Ich dachte, du wirst mal hinfahren und dir ansehen, wie er so lebt…
Ich ging zum Haus, und mir entgegen kam ein fuchsroter feister Hund, der aussah wie ein Schwein. Er wollte bellen, war aber zu faul. Aus der Küche kam die Köchin, sie war barfuß und dick und sah ebenfalls aus wie ein Schwein. Sie sagte, der Herr halte gerade Mittagsruhe. Ich ging zu meinem Bruder hinein, er saß im Bett, die Knie mit einer Decke zugedeckt; er war alt geworden, dick, gleichsam aufgeschwemmt; seine Wangen, seine Nase und seine Lippen hatte es nach vorn gezogen, und es schien, als wolle er jeden Augenblick in die Bettdecke grunzen…
…
Doch es handelt sich jetzt nicht um ihn, sondern um mich selbst. Ich will Ihnen erzählen, welche Wandlung in diesen wenigen Stunden, die ich auf seinem Gut weilte, in mir vorging.
Am Abend, als wir Tee tranken, stellte die Köchin einen Teller voller Stachelbeeren auf den Tisch. Das waren keine gekauften, sondern seine eigenen Stachelbeeren, die ersten, seitdem die Sträucher gepflanzt worden waren. Nikolaij Iwanytsch lachte und blickte die Stachelbeeren ein Weilchen schweigend an, mit Tränen in den Augen – er konnte vor Rührung nicht sprechen; dann aber steckte er sich eine Beere in den Mund, schaute mich triumphierend an wie ein Kind, das endlich sein geliebtes Spielzeug bekommen hat, und sagte:
„Wie köstlich!“
Er aß gierig und wiederholte immer wieder: „Ach, wie köstlich! Probier mal!“
Die Beeren waren hart und sauer, aber wie Puschkin sagt, „teurer als die bittere Wahrheit ist uns der erhabene Wahn“. Ich sah einen glücklichen Menschen vor mir, dessen sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen war, der sein Ziel im Leben erreicht, der das bekommen hatte, was er haben wollte, der wirklich mit seinem Schicksal und mit sich selbst zufrieden war. Meinen Gedanken über das menschliche Glück hatte sich immer etwas Wehmütiges beigesellt, nun aber, beim Anblick dieses glücklichen Menschen, übermannte mich ein bedrückendes Gefühl, das an Verzweifelung grenzte. Besonders bedrückend war es in der Nacht. Man hatte mir ein Bett im Zimmer neben dem Schlafgemach meines Bruders hergerichtet, und ich konnte hören, dass er nicht schlief und immer wieder aufstand, zu dem Teller mit den Stachelbeeren ging und sich eine Beere nahm. Ich überlegte mir, wie viele zufriedene, glückliche Menschen es eigentlich gibt. Was für eine überwältigende Macht ist das! Sehen Sie sich dieses Leben an: Unverfrorenheit und Müßiggang der Starken, Unwissenheit und Tierähnlichkeit der Schwachen, ringsum unglaubliche Armut, Enge, Entartung, Trunkenheit, Heuchelei, Lügen… Dabei herrscht in allen Häusern und auf den Straßen Ruhe und Frieden; unter fünfzigtausend Menschen, die in der Stadt leben, ist kein einziger, der laut aufschreien und protestieren würde. Wir sehen die Menschen, die auf den Markt gehen und Lebensmittel einkaufen, die am Tag essen, nachts schlafen, die Unsinn reden, heiraten, alt werden und seelenruhig ihre Verstorbenen auf den Friedhof schleppen; aber wir sehen und hören nicht diejenigen, die leiden, und das Schreckliche im Leben spielt sich irgendwo hinter den Kulissen ab. Alles ist still und friedlich, und es protestiert nur die stumme Statistik: soundso viele haben den Verstand verloren, soundso viele Eimer Schnaps wurden ausgetrunken, soundso viele Kinder sind an Unterernährung zugrunde gegangen…
Und eine solche Ordnung ist offenbar notwendig; offenbar fühlt sich der Glückliche nur deshalb wohl, weil die Unglücklichen ihre Last schweigend tragen, und ohne dieses Schweigen wäre das Glück unmöglich. Das ist eine allgemeine Hypnose. An der Tür eines jeden zufriedenen, glücklichen Menschen müsste jemand mit einem Hämmerchen stehen und ständig mit seinem Klopfen daran erinneren, dass es Unglückliche gibt, dass das Leben, so glücklich es auch sein mag, ihm früher oder später seine Krallen zeigen wird und dass auch ihn das Unglück treffen kann – Krankheit, Armut, Verluste –, und dann wird ihn niemand sehen und hören, so wie er jetzt die anderen nicht hört oder sieht. Doch den Menschen mit dem Hämerchen gibt es nicht, der Glückliche lebt zu seinem Vergnügen, und die kleinen Sorgen des Lebens bewegen ihn nur leicht wie der Wind die Espe – und alles ist zum Besten bestellt.
…
Iwan Iwanytsch schritt erregt aus einer Ecke in die andere und wiederholte:
„Wenn ich doch noch jung wäre!“
Plötzlich trat er zu Aljechin und drückte ihm bald die eine, bald die andere Hand.
„Pawel Konstantinytsch“, sagte er mit flehender Stimme, „geben Sie sich nicht der Ruhe hin, lassen Sie sich nicht einlullen! Solange Sie jung, stark und rüstig sind, dürfen Sie nicht müde werden, Gutes zu tun! Es gibt kein Glück, und es soll auch keines geben, und wenn das Leben Sinn und Zweck hat, so liegt dieser Sinn und Zweck nicht in unserem Glück, sondern in etwas Vernünftigerem, Größerem. Tun Sie Gutes!“
Das alles sagte Iwan Iwanytsch mit einem hilflosen, flehendem Lächeln, als bitte er für sich selbst.
Dann saßen alle drei in ihren Lehnstühlen, an verschiedenen Ecken des Salons, und schwiegen. Iwan Iwanytschs Geschichte befriedigte weder Burkin noch Aljechin. Während die Generale und die Damen, die in der Dämmerung lebendig zu sein schienen, aus ihren goldenen Rahmen auf sie herabblickten, war es nicht sehr unterhaltsam, sich die Geschichte von dem armen Beamten anzuhören, der Stachelbeeren aß. Man wollte lieber etwas von eleganten Menschen, von Frauen hören.
…
(Anton Tschechow: Meistererzählungen; Verlag Rütten & Loening, Berlin, 1975, S. 445 – 457)
1898 schrieb Tschechow „diese unscheinbare Geschichte, die in nuce den ganzen Tschechow’schen Kosmos eröffnet von der lächerlich-jammervollen Vergeblichkeit des Daseins und den hilflos-verzweifelten Versuchen, dem Leben Sinn und Gestalt zu geben.“ (Erlangen-Wladimir-Städtepartnerschaft)
Ich bin tatsächlich eine traurige, lächerlich-jammervolle Figur, grunzend und glücklich in meinem kleinen, weltabgewandten Garten, friedlich Stachelbeeren züchtend, ohne viele Gedanken an leidende Mitmenschen, ohne den Antrieb, Gutes für sie zu tun.
Ich rufe nicht einmal hilflos-verzeifelt andere dazu auf.
Das Leben als Stachelbeerzüchter
Verdammt, ich bin wirklich mit meinem Schicksal und mit mir selbst zufrieden, das stimmt; aber den Menschen mit dem Hämmerchen, den höre ich klopfen. Zumindest immer mal wieder.
Und Fragen stelle ich mir sowieso immer gern (um sie mir dann selbst ausführlich zu beantworten): Wo genau liegt die Grenze zwischen Glücklich- und Unglücklichsein? Lässt sich Glück objektiv messen oder ist es eine subjektive Empfindung, die jeder haben kann und auch immer wieder mal hat? Kann auch der obdachlose Trinker auf der Straße, können auch Tschechows Leidende glücklich sein?
Ich glaube, man kann Grundbedingungen definieren, die Glücklichsein wahrscheinlicher machen (ein hungernder, frierender, um seine Existenz ringender Mensch kann nur schwer glücklich sein); aber ob ein Mensch mit einer Grundsicherung glücklich ist, das liegt nicht im Ausmaß der Grundsicherung sondern im Wesen des Menschen.
Es gibt zu viele materiell reiche Menschen, die unzufrieden und unglücklich sind – so wie Tschechows Iwan Iwanytsch und viele Bewohner von führenden Industriestaaten; da bin ich lieber zufriedener Stachelbeerzüchter, der ab und zu glücklich ist.
Guten Morgen!
Im nächsten Sommer schicke ich dir 2-3 Stachelbeersamen. 1 ist wohl schon recht alt. Werde dann auch mal ältere Leute fragen, mit einem Garten aus den 50-60 er Jahren. Vielleicht ist was intressantes dabei?!
Prima Montag wünsche ich Dir.
Das würde mich freuen! Je mehr „Gen-Material“ ich im Garten habe, desto mehr Mischungen können die Insekten anrichten…
Und wenn ich mich dann vielleicht eines Tages nur noch mit Stachelbeeren beschäftige und meine gesamte Fläche ihnen zur Verfügung stelle, kann ich auch sehen, wie die Mischungen aussehen…
Das finde ich wahnsinnig spannend…
Liebe Grüße
J:)