Landsorten braucht das Land
oder: Was Landsorten sind und wozu wir sie unbedingt (wieder) brauchen.
Als „Landsorten“ (engl. „landraces“) werden die Populationen von Nutz- oder Kulturpflanzen-Arten bezeichnet, von denen die Menschheit 10.000 Jahre lang gelebt hat.
Ungefähr seit dem Jahr 1900 unserer Zeitrechnung verschwanden sie aber nach und nach und sind hier und heute gänzlich verschwunden. Landsorten sind so vollkommen aus unserem Bewusstsein getilgt, dass mancheine:r nicht glauben kann, dass man ihre Früchte essen und genießen konnte.
Landsorten werden seitdem bestenfalls als wertvolle, „pflanzen-genetische Ressourcen“ betrachtet, von denen – im besten Falle – sicherheitshalber ein Satz ihrer häufigsten Gene, ihr „Gen-Pool“, in Gen-Banken konserviert wird (wer Englisch beherrscht und wissen will, wie dieser Durchschnitts-Gen-Pool ermittelt wird, kann das in „Optimum sampling strategies in genetic conservation“ nachlesen).
Aber ansonsten interessieren Landsorten niemanden mehr…
Ich möchte behaupten, dass mit dem Aussterben der Landsorten auch das Wissen verloren gegangen ist, was „Landsorten“ genau sind. Von wissenschaftlicher Seite wird dieses Nicht-Wissen mit den Worten bestätigt: „Weil Landsorten eine komplexe und undefinierbare Natur besitzen, kann es keine allumfassende Definition für sie geben“ / „As a landrace has a complex and indefinable nature an all-embracing definition cannot be given.“ (aus „Landraces: A review of definitions and classifications“ von Anton C. Zeven, 1998).
Entschuldigt bitte, wenn ich an dieser Stelle laut werde und vielleicht sogar schreie; denn ich rege mich gewaltig auf über die mangelnde Scharfstellung des Blicks, die verhindert, das eindeutige Merkmal zu erkennen, welches Landsorten auszeichnete.
Ja, Landsorten hatten ein eindeutiges Erkennungsmerkmal!
Möglicherweise liegt die „Unsichtbarkeit“ dieses Merkmals auch daran, dass Landsorten das Wort „Sorten“ im Namen tragen und deshalb allzu leicht für gewöhnliche – manche sagen „traditionelle“ oder „primitive“ – Sorten gehalten werden. Wenn der Blick darauf fixiert ist, „Sorten“ zu sehen, kann das Wesentliche der Landsorten schwerlich erkannt werden; denn Landsorten haben mit „Sorten“, wie wir den Begriff heute verstehen und ihn zumeist verwenden, rein garnichts gemein.
„Sorten“, genauer „Zucht-Sorten“ gibt es erst seit ungefahr 1900, „Landsorten“ existierten, wie gesagt, schon seit Beginn des Pflanzenbaus.
Ich habe im Beitrag „Die Kehrseite der Pflanzenzüchtung“ beschrieben, welche Erkenntnisse gewonnen werden mussten, um überhaupt Sorten züchten zu können (nein, es waren in diesem Fall nicht die Vererbungsregeln des Gregor Mendel!): Es mussten die Vorteile der Einheitlichkeit entdeckt werden, die vor allem durch Inzucht geschaffen wird! Ohne Inzucht gibt es keine Zucht-Sorten…
Alle Sorten, die ab 1900 in Verkehr gebracht wurden, sind Inzucht-Sorten und können deshalb als moderne Sorten von Landsorten grundsätzlich unterschieden werden, auch wenn einige Menschen einen Teil von den modernen Sorten gern als „historische“ oder „alte“ Sorten bezeichnen und von noch moderneren Sorten, den F1-Hybrid-Sorten, abgrenzen will; aber alte/historische, moderne und modernste Sorten unterscheiden sich nicht; sie alle sind „Zucht-Sorten“, Sorten im heutigen Sinne, moderne Sorten mit einheitlichen Individuen.
Landsorten dagegen unterscheiden sich grundsätzlich und fundamental von diesen modernen Sorten, da sie eben keine Sorten sind, wie Ihr jetzt sehen werdet…
Wodurch unterscheiden sich Landsorten und Zuchtsorten?
Zuerst möchte ich Euch (noch einmal) darlegen, was „Sorten“ (Zucht-Sorten) auszeichnet.
Das Merkmal moderner (alter, historischer, modernerer und modernster) Sorten
Wie soeben schon angedeutet, sind moderne Sorten dadurch charakterisiert, dass alle Individuen einer Zuchtsorte sehr oder sogar vollkommen einheitlich sind und von nur einem Ausgangsexemplar bzw. von nur sehr wenigen Exemplaren abstammen. Moderne Sorten entstehen durch gelenkte Inzucht, werden durch Inzucht vermehrt und erhalten. Sollten „Abweicher“ auftreten, werden diese aus-sortiert. Die Individuen einer Zucht-Sorte sind äußerlich und deshalb auch genetisch außerordentlich einheitlich; alle Pflanzen sind homozygot/reinerbig.
Das soll auch so sein: Sorten sollen „sortenecht“ und „samenfest“ sein, d. h., ihre Samen sollen möglichst homogene, gleichartige Individuen liefern.
Bei Hybrid-„Sorten“ bezieht sich das zuvor gesagte auf die „Linien“, mit denen das F1-Hybrid-Saatgut produziert wird. Diese Linien müssen ebenfalls einheitlich und „samenfest“ sein, damit ihre Nachkommen, die F1-Hybride, noch homogener als ihre Elternlinien sind.
Ich hoffe, hiermit ist klar, dass auch „alte/historische“ Sorten in diesem Sinne „modern“ sind. Auch die Individuen „alter“ Sorten sollen samenfest sein, d.h., genetisch einheitliche Nachkommen liefern; auch bei ihnen muss bei der Vermehrung auf Inzucht und Selektion von „Abweichlern“ geachtet werden.
„Samenfest“ bedeutet also immer Inzucht, mag diese von Sorten-Züchtern und Sorten-Erhalterinnen auch unterschiedlich streng gehandhabt werden.
Das Merkmal von Landsorten
Bei Landsorten war das Gegenteil der Fall: Alle Individuen einer Landsorte unterschieden sich genetisch; sie besaßen individuelle Gen-Kombinationen und waren somit genetisch einzigartig. Die Individuen einer Landsorte konnten sich über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende frei und unkontrolliert miteinander vermischen, Besonderheiten ausbilden und diese behalten; sie wurden nicht auf Einheitlichkeit selektiert.
Landsorten waren heterogene, ungleichartige Populationen, Populationen aus einzigartigen, heterozygoten/gemischterbigen Individuen; sie glichen in dieser Hinsicht wild lebenden Arten.
Um jetzt nicht der Falschaussage bezichtigt zu werden, sei darauf hingewiesen, dass es bei Landsorten einen (kleinen) Unterschied zwischen Arten mit Fremdbefruchtung, wie z. B. Roggen, Zwiebeln und Möhren, und Arten mit Selbstbefruchtung, wie z. B. Weizen, Gartenbohnen, Tomaten und Paprika gab.
In Landsorten-Populationen von „Selbstbefruchtern“ war nicht jedes Individuum genetisch einzigartig; „Selbstbefruchter“-Populationen bestanden aus (einer großen Zahl) genetisch unterschiedlicher „Linien“, deren Mitglieder allerdings genetisch einheitlich waren, und genetisch einzigartigen Zufallskreuzungen zwischen den vorhandenen „Linien“.
Die ungehinderte Verkreuzung und die dadurch bedingte Heterogenität ihrer Individuen ist das wesentliche Merkmal einer Landsorte; außerdem ist bedeutsam, dass keine menschliche Selektion stattfand, die auf Einheitlichkeit (bestimmter Merkmale) gerichtet war.
„Landsorte“ ist somit ein anderes Wort für „lokale Population einer Nutzpflanzen-Art“.
Es gibt also ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Zuchtsorten und Landsorten:
- Zuchtsorten bilden Populationen aus genetisch einheitlichen Individuen (durch erzwungene Inzucht mit Reinerhaltung).
- Landsorten dagegen waren Populationen aus genetisch unterschiedlichen Individuen (durch freie Verkreuzung und Unterschieden, die mit der Zeit zunehmen konnten).
Lasst Euch nicht durch das Merkmal-Sammelsurium irre machen, das heute von vielen Menschen (auch Wissenschaftler:innen) zur Beschreibung von Landsorten verwendet wird (in diesem Dokument habe ich eine kleine Auswahl von Landsorten-Definitionen zusammengestellt).
Dass Landsorten z. B. an regionale Umwelt- und Anbaubedingungen angepasst waren, regional oft ein – oberflächlich betrachtet – einheitliches Ausehen zeigten und sich von Region zu Region unterscheiden konnten, sind sekundäre Erscheinungen, die durch Gen-Drift und die ungehinderte Vermischung der Individuen bedingt waren (mehr über die Entstehung von neuen Landsorten könnt Ihr im Beitrag „Gärtnern mit Landsorten“ erfahren).
Bleibt noch die Frage:
Wozu brauchen wir Landsorten?
- Damit neue, nützliche Individuen innerhalb unserer Nutzpflanzen-Arten entstehen können. Nur in der Vielfalt sich frei mischender Individuen kann durch Neu-Kombination vorhandener Eigenschaften und Mutationen Neuartiges entstehen. Es darf keine gezielte Selektion auf bestimmte Merkmale erfolgen, damit dieses Neue bestehen bleiben und sich weiterentwickeln kann.
- Damit genügend unterschiedliche, einzigartige Individuen (Vielfalt!) vorhanden sind, wenn der Klimawandel krasser wird, wenn sich Anbau- und Umweltbedingungen ändern; denn nur wenn unendlich viele Varianten vorhanden sind, können passende dabeisein, die überleben, kann Anpassung stattfinden…
Landsorten sind Populationen lebendiger Individuen, die sich jedes Jahr mit anderen frei kreuzen müssen, damit ständig unendlich viele, neue, genetische Kombinationen und Mutationen entstehen und sich unter den herrschenden Anbau- und Umweltverhältnissen bewähren können; deshalb können sie nicht in Gen-Banken tiefgefroren erhalten werden (bei der Sammlung einer Landsorte können außerdem, wie schon erwähnt, nur ihre häufigsten Gene „eingefangen“ werden).
Landsorten müssen jedes Jahr in Gärten und auf Feldern wachsen, am besten in Euren Gärten und auf Euren Feldern!
Aber auch der Rest der Gesellschaft sollte wissen, warum Landsorten wichtig sind, und ihren Anbau entsprechend unterstützen – durch den Kauf ihrer Früchte und der Produkte, die aus ihnen hergestellt werden, durch Spenden und Steuergelder…
Wer sich auf die Gen-Technik verlässt, ist verlassen
Die Krux der züchtenden Gen-Techniker:innen der Universitäten und Saatgut-Konzerne ist, dass sie nur ganz wenige, neue Gen-Kombinationen herstellen können; auch die Anzahl neuer Mutationen, die sie mit Hilfe mutagener Strahlung und durch mutagene Stoffe auslösen können (sofern das heute noch versucht wird), hält sich arg in Grenzen…
Ich habe keine Angst, dass die Gen-Techniker:innen etwas Gefährliches erzeugen könnten; ich glaube ihnen, dass sie nur das tun, was die „Natur“ auch tut: Varianten erzeugen, die anschließend von den Umweltbedingungen geprüft werden.
Ich habe Angst, dass die Gen-Techniker:innen nicht die Varianten herstellen können, die wir, unsere Kinder und Enkel in Zukunft brauchen – weil sie die Zukunft einfach nicht kennen können…
Wehe uns, wenn unter ihren paar Varianten nicht die passenden sind, die z. B. mit einem unbekannten Klima zurechtkommen!
Ich prophezeie, dass der Kampf der Pflanzenzüchter mit den Umweltbedingungen nicht anders ausgehen wird als der „Wettlauf zwischen Hase und Igel“…
…deshalb halte ich es für brandgefährlich, sich allein auf die Pflanzenzüchter:innen und ihre Gen-Technik zu verlassen!
Wir brauchen eine unendliche Vielfalt von Individuen, eine Vielfalt, die nur durch den verbreiteten Anbau von Landsorten-Populationen, von sortenfreien Nutzpflanzen-Arten, hervorgebracht werden kann.
In solchen, unendlich vielfältigen „Landsorten-Populationen“ können die Gen-Techniker:innen eines Tages vielleicht auch die Gene (oder Pflanzen) finden, die ihre ertragreichen Zucht-Sorten für ein geändertes Klima tauglich machen…