Nutzpflanzen-Vielfalt neu berechnet
oder: Warum das Maß aller Dinge die einzelne Pflanze, das einzelne Lebewesen, das einzigartige Individuum ist, so wie Du und ich.
In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass die einzelne Pflanze für die Nutzpflanzen-Vielfalt von ausschlaggebender Bedeutung ist so wie das einzelne Lebewesen für die Biologische Vielfalt – und nicht „Sorten“ und „Arten“.
Eine kleine Überschlagsrechnung, die Ihr unten nachvollziehen könnt, macht ersichtlich, wie viele verschiedene Gen-Kombinationen in unseren Nutzpflanzen-Arten momentan vorhanden sind und wie viele möglich wären; sie zeigt, wie es um die Nutzpflanzen-Vielfalt derzeit wirklich bestellt ist.
Für diese Rechnung habe ich die Gurke, Cucumis sativus L., als Beispiel gewählt, weil sie ein überschaubares Genom besitzt; aber eine solche Rechnung kommt im Prinzip für alle Nutzpflanzen-Arten zum gleichen Ergebnis.
Zur Dekoration dieses Beitrags verwende ich dagegen die Speisezwiebel, nicht nur, weil sie einer meiner Lieblingskulturen ist, sondern weil jede Zwiebel, die auf den Bildern zu sehen ist, eine wirklich einzigartige Zwiebel mit einer einzigartigen Gen-Kombination ist.
Die derzeitige Berechnung von Nutzpflanzen-Vielfalt und Biodiversität
Bisher wird Nutzpflanzen-Vielfalt in „Anzahl der Sorten“ gemessen, die es pro Nutzpflanzen-Art gibt; viele Sorten sollen viel Vielfalt bedeuten.
Biologische Vielfalt (Biodiversität) wird in „Zahl der Arten“ angegeben; je mehr Arten, desto größer soll die Biodiversität sein.
Nun findet auch die „Genetische Vielfalt“ Berücksichtung; aber auch hier ist die „Art“ der Bezugsrahmen; außerdem bedeutet „Genetische Vielfalt“ keine genetisch vielfältigen, lebensfähigen Individuen, sondern nur die verschiedenen Varianten (Allele) der einzelnen Gene einer Art, die auch als „Gen-Pool“ oder „Genetische Ressourcen“ bezeichnet werden.
Das dritte Kriterium für „Vielfalt“ ist die Anzahl der (Agrar)Lebensräume, (Agrar)Lebensgemeinschaften oder (Agrar)Ökosysteme; all diese Begriffe werden selbstverständlich durch Arten und/oder Sorten mit Leben erfüllt, nicht mit individuellen Lebewesen.
Offizielle Definition von „Biodiversität“
In Artikel 2 (Use of Terms) der „Convention of Biological Diversity“ ist zu lesen: „Biologische Vielfalt“ bezeichnet die Variabilität unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft, einschließlich u. a. terrestrischer, mariner und anderer aquatischer Ökosysteme und der ökologischen Komplexe, zu denen sie gehören; dies schließt die Vielfalt innerhalb von Arten, zwischen Arten und von Ökosystemen ein. („Biological diversity“ means the variability among living organisms from all sources including, inter alia, terrestrial, marine and other aquatic ecosystems and the ecological complexes of which they are part; this includes diversity within species, between species and of ecosystems.)
Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) fasst dies so zusammen: Biologische Vielfalt oder Biodiversität steht als Sammelbegriff für die Vielzahl der Arten, die genetischen Besonderheiten innerhalb der Arten und die Vielfalt der Lebensgemeinschaften.
Schon seit ich mich das erste Mal intensiver mit Biologischer und Nutzpflanzen-Vielfalt befasst habe, hat mich das Statische und Mechanistische gestört, das aus der offiziellen Definition von „Vielfalt“ und den daraus abgeleiteten Erhaltungs- und Schutzmaßnahmen spricht.
Es wird meines Erachtens dabei übersehen, dass die gegenwärtige „Biodiversität“ und „Nutzpflanzen-Vielfalt“ (Zwischen)Ergebnisse eines Prozesses sind, des ständigen Werdens und Vergehens von einzelnen Lebewesen, dass sich dieser Lebensprozess nicht anhalten und sich „Vielfalt“ nicht wie ein altes Gebäude konservieren lässt.
Mich hat mehr und mehr befremdet, dass abstrakte Kategorien, wie „Sorten“, „Arten“, „Gene“ und „Lebensräume“ im Mittelpunkt stehen, die ursprünglich dazu dienten, die biologische Vielfalt fassen und begreifen zu können. Das Wesentliche scheint dabei aus dem Blickfeld geraten: Die Individuen, die einzelnen Tiere und Pflanzen, die doch die Lebensvielfalt ausmachen.
Das einzelne Lebe-Wesen ist das Subjekt, das agiert, erleidet, sich fortpflanzt, lebt und stirbt.
Es sind die einzelnen Lebewesen, die sich mit den Umweltverhältnissen auseinandersetzen müssen, die von den äußeren Bedingungen gefördert oder ausgelöscht werden.
Wenn der Blick auf das einzelne Lebewesen gerichtet ist, stellt sich zwangsläufig die Frage:
Woran liegt es, wenn ein Lebewesen gedeiht und sich fortpflanzt, das andere aber kümmert und stirbt?
Leben und gedeihen Pflanzen und Tiere, weil sie eine besondere, einzigartige Eigenschaft besitzen, ein besonderes, einzigartiges Gen in sich tragen?
Ohne Frage kann eine bestimmte Eigenschaft von Nutzen sein, wie die gezielte Pflanzenzüchtung seit 200 Jahren beweist; aber letztlich ist immer die Gesamtheit aller Eigenschaften für einen Überlebenserfolg verantwortlich, die Gen-Kombination ist entscheidend, nicht ein einzelnes Gen.
Von der unerschöpflichen Vielfalt an Gen-Kombinationen, den „genetischen Varianten“, die bei jedem Fortpflanzungszyklus enststehen, überleben immer nur die „passenden“, diejenigen, die mit den Umweltverhältnissen zurechtkommen.
Eine maximale Anzahl an genetischen Varianten sichert Überleben und Anpassung
„Unzählige Varianten (Variantenreichtum) an einzelnen Lebewesen“ ist das Rezept des „Lebens“, um unter veränderlichen Bedingungen „am Leben“ zu bleiben, seit Milliarden Jahren.
„Unzählige Varianten an einzelnen Lebewesen“ ist auch das Rezept des „Lebens“, sich ständig weiterzuentwickeln, neue, andere, bessere Wege zu finden, um Stoff- und Energiequellen zu nutzen; „unzählige Varianten“ ist das Grundrezept der „Evolution“.
Biologische oder Nutzpflanzen-Vielfalt kann demnach nur „Variantenreichtum“ bedeuten, Reichtum an genetischen Kombinationen, Reichtum an genetisch einzigartigen Lebewesen, Reichtum an unterschiedlichen Individuen, an Individualität; denn nur diese Vielfalt garantiert, dass der Lebensprozess nicht dadurch zum Stillstand kommt, dass alle Lebewesen auf einen Schlag von einer (gravierenden) Änderung der äußeren Bedingungen ausgelöscht werden, dass immer wenigstens ein paar Varianten überleben.
Individualität zum Anschauen
Die Individualität aller Lebewesen, die um uns herum kreuchen und fleuchen, ist zumeist schlecht zu erkennen. Wir sehen bestenfalls „Arten“: Ratten, Schnecken oder Ringelblumen; aber wir sehen nicht das einzelne Individuum.
Was Variantenreichtum ist, wie Individualität in der Realität aussieht, kann jede:r bei einem Blick auf die Menschheit leicht erkennen: Jeder Mensch ist einzigartig, besitzt eine einzigartige Kombination an Eigenschaften (auch ein-eiige Zwillinge unterscheiden sich genetisch voneinander, wenn auch nur minimal; denn jeder biologische Prozess ist mit einem geringen Prozentsatz an Fehlern/Abweichungen verbunden, so auch jede Zellteilung), jeder Mensch hat ein eigenes Gesicht und unterscheidet sich von jedem anderen (auch wenn viele Menschen nur die abstrakten Kategorien „Weiße“, „Schwarze“, „Deutsche“ oder „Türken“ sehen wollen).
Die Menschheit ist ein perfektes Beispiel für Individuen-Vielfalt.
Bei allen „wild“ lebenden Organismen, die sich frei miteinander mischen können, ist es ebenso: Sie sind eine größtmögliche Anzahl genetisch unterschiedlicher Einzelwesen; nur können wir ihre individuellen Unterschiede eben nicht so leicht erkennen, wie wir das bei uns selbst können.
Dass aber z. B. jedes „Unkraut“ und jeder „Schädling“ ein einzigartiges Individuum ist, will ich mit Hilfe der kleinen Galerie von 20 Kartoffelkäfern, die ich nachfolgend eingebunden habe, wenigstens ansatzweise sichtbar machen: Alle Käfer tragen unterschiedlich gemusterte Brust- und Kopfplatten; sie alle sind (genetisch) einzigartige Individuen (was ich auch an ihrem jeweils unterschiedlichen Verhalten beobachten konnte, als ich sie fotografierte: Manche versuchten mich intensiv zu beißen, andere wiederum bewegten sich minutenlang nicht).
Schaut sie Euch an und entdeckt ihre Individualität; drei aufeinander folgende Bilder zeigen jeweils ein Individuum…
Vielleicht könnt Ihr dann einmal denjenigen widersprechen, die sagen, „der Kartoffelkäfer“ oder „die Ratte“ seien resistent geworden; denn Ihr wisst, dass nur ein paar Individuen die neuen, giftigeren Umweltverhältnisse überlebt haben – und sich dann erfolgreich fortpflanzen konnten.
Die Anzahl an Gen-Kombinationen innerhalb unserer Nutzpflanzen-Arten
Wie sieht das nun bei unseren Nutzpflanzen (und -tieren) aus? Wie ist es um ihre Individuen-Vielfalt, um ihre Individualität bestellt? Wie viele verschiedene Gen-Kombinationen (genetische Varianten, unterschiedliche Individuen) gibt es von jeder Nutzpflanzen-Art?
Letztlich ist auch ihr Überlebenserfolg von der Anzahl ihrer genetischen Varianten abhängig…
An einem simplen Rechenbeispiel demonstriere ich ganz grob, wie viele Varianten innerhalb der Nutzpflanzen-Art „Gurke“ (Cucumis sativus) heute tatsächlich vorhanden sind und wie viele möglich wären. Die Gurke dient hier, wie schon gesagt, nur als Beispiel; bei jeder Nutzpflanzen-Art sieht es im Prinzip ähnlich aus…
Variantenreichtum bei modernen Hochleistungssorten
Ich denke, dass die meisten von Euch wissen, was eine „Sorte“, eine Zucht-Sorte, ausmacht; aber sicherheitshalber benenne ich das entscheidende Merkmal kurz.
Wenn Ihr Samen einer samenfesten Sorte oder einer F1-Hybrid-Sorte kauft, geht Ihr davon aus, dass alle daraus entstehenden Pflanzen ganz bestimmte Eigenschaften besitzen, so wie sie auf dem Samentütchen oder in einer zugehörigen Sortenbeschreibung versprochen werden. Wenn abweichende Pflanzen darunter sind, seid Ihr irritiert, enttäuscht oder gar verärgert (gewerbliche Anbauer:innen können sogar Schadenersatz verlangen, wenn das Saatgut nicht die gesetzlich vorgeschriebene Sortenechtheit und -reinheit erfüllt).
Eine Zuchtsorte zeichnet sich also durch einheitliche Pflanzen aus.
Die Einheitlichkeit der einzelnen Pflanzen einer Sorte beruht selbstverständlich auf einem einheitlichen Bauplan, also der gleichen Gen-Kombination. Millionen Pflanzen einer Zuchtsorte sind genetisch gleich; sie zählen somit als eine genetische Variante.
Die Einheitlichkeit der Pflanzen einer Sorte entsteht immer durch Inzucht, entweder durch freiwillige (bei „Selbstbefruchtern“) oder durch Inzucht, die vom Menschen gesteuert/erzwungen wird (bei „Fremdbefruchtern“ und F1-Hybrid-Sorten). Samenfeste Sorten werden durch mehr oder weniger strenge Inzucht als Sorte erhalten, ebenso wie die „Mutter- und Vater-Linien“ der F1-Hybrid-Sorten.
Man könnte somit (vereinfacht) sagen, dass die Anzahl genetischer Varianten innerhalb einer Nutzpflanzenart mit der Anzahl an Zuchtsorten übereinstimmt.
Wenn wir zum Beispiel, geschätzt, weltweit auf 5.000 registrierte, zugelassene Sorten der Nutzpflanzenart „Gurke“ kommen (in der Europäischen Plant Variety Database, dem Common Catalogue, sind 1.218 Gurken-Sorten registriert), besitzen wir 5.000 verschiedene Gen-Kombinationen der Gurke, 5.000 genetische Varianten.
Ich will hier jetzt nicht besonders hervorheben, dass sich alle Hochleistungssorten genetisch nur wenig unterscheiden, da sie alle bestimmte, gleiche Vermarktungsnormen erfüllen und bestimmten, gleichen Anbaubedingungen gewachsen sein müssen; auch dass nur ein geringer Anteil dieser registrierten Sorten den Hauptteil des Anbaus ausmacht, ist an dieser Stelle nebensächlich.
Ihr müsst Euch auch nicht die genaue Zahl merken (Ihr könnt sie ruhig verdoppeln); aber merkt Euch die Größenordnung: 5.000 genetische Varianten; 5.000, eine vier-stellige Zahl…
Variantenreichtum bei Alten Sorten, die rekultiviert werden
Auch „Alte Sorten“ sind Sorten, die das Merkmal der Einheitlichkeit erfüllen, wenn sie rekultiviert, d. h., aus einer Gen-Bank wieder in herkömmlichen Anbau mit vorausgehender „Erhaltungsselektion“ und Inzucht überführt werden. Ihre ohnehin geringe Anzahl vermehrt demnach bestenfalls die Anzahl der genetischen Varianten, die zuvor genannt wurde: Aus 5.000 werden durch die Erhaltung von 50 Alten Sorten 5.050 Varianten von Cucumis sativus, unserer Gurke.
Variantenreichtum und „Alte Sorten“ sowie „Landsorten“, die in Gen-Banken lagern
Bei ausgemusterten, ehemaligen (alten) Nutzpflanzen-Sorten, die in Gen-Banken erhalten werden, nimmt die Verschiedenheit ihrer Individuen mit der Zeit durch Mutationen oder ungewollte Kreuzungen zu; sie werden dort nicht auf Einheitlichkeit selektiert. Ich gehe also (großzügig) davon aus, dass sich die rund 100 Exemplare, die pro Sorte im Durchschnitt in einer Gen-Bank periodisch vermehrt werden, in ihrem genetischen Bauplan in gewissem Maße unterscheiden, dass dort also 100 (leicht) verschiedene Gen-Kombinationen pro „Alter Sorte“ vorliegen.
Nicht viel anders verhält es sich bei den „Landsorten“, die in Gen-Banken erhalten werden. Als ihre Probe gesammelt wurde, unterschieden sich die einzelnen Samen/Pflanzen genetisch voneinander, da sie einem Gemisch sich frei kreuzender Individuen entnommen wurden. Auch wenn sich die Unterschiede im Laufe der Erhaltungszeit durch Gen-Drift und Inzucht verringert haben, gehe ich (großzügig) davon aus, dass sich alle Exemplare einer solchen „Landsorte“ genetisch noch unterscheiden, dass also auch bei einer „Landsorte“ rund 100 genetische Varianten vorhanden sind.
Weltweit werden (geschätzt) rund 5.000 Gurkensorten in Gen-Banken erhalten (in dieser Untersuchung wird die Zahl 3.342 genannt, die allerdings nur die chinesischen, niederländischen und U.S.-amerikanischen Sammlungen einbezieht; die deutsche Gen-Bank in Gatersleben spuckt eine Liste mit 622 Gurken-Sorten aus); ich denke jedoch, dass ich mit 5.000 Gen-Bank-Akzessionen nicht völlig danebenliege…
Um die Anzahl an genetischen Varianten des Gen-Bank-Materials zu errechnen, müssen wir also 5.000 mit 100 multiplizieren; dabei komme ich auf die Zahl 500.000.
Ich möchte hier wieder nicht extra erwähnen, dass die „Genbank-Sorten“ keiner wirklichen Selektion durch die Umweltbedingungen ausgesetzt sind, da sie möglichst selten und unter künstlichen Bedingungen (Gewächshäuser, Labore u. ä.) vermehrt werden; auch nicht, dass ihre Unterschiede mit der Zeit abnehmen. Ohnehin werden dort nicht ihre individuellen Gen-Kombinationen als wertvoll erachtet. Sie werden nur als „Genetische Ressourcen“ gesehen, d. h., einige ihrer Gene sollen (möglicherweise/zukünftig) von Wert sein; aber das soll hier keine Rolle spielen…
Merkt Euch jedoch die Größenordnung ihrer genetischen Varianten (Ihr könnt den Wert auch ruhig wieder verdoppeln): Wir besitzen ungefähr 500.000 verschiedene Gen-Kombinationen von Cucumis sativus in Gen-Banken. 500.000, eine sechs-stellige Zahl…
Variantenreichtum bei Nutzpflanzen-Arten
Betrachten wir nun den Variantenreichtum von Gurken, die sich frei miteinander kreuzen können, so wie es der Fall war, bevor eine gezielte Pflanzenzucht einsetzte, also bevor aus der unendlichen Vielfalt der „Landsorten“ eine Auswahl der „Besten“ getroffen und diese per Inzucht zu „Sorten“ geformt wurden.
Die Individuen der Art Cucumis sativus L. sollen von rund 25.000 Genen bestimmt werden; jedes Gen soll durchschnittlich vier Varianten (Allele) haben. Das bedeutet, dass der „Gen-Pool“ von Cucumis sativus rund 100.000 Gene umfasst.
Wenn wir nun ausrechnen, wie viele Varianten mit diesen Genen gebildet werden können, müssen wir meiner (geringen) Rechenkünste nach 25.000 hoch 4 rechnen, also 25.000 x 25.000 x 25.000 x 25.000.
Korrekt?
Mein Rechner drückt die Summe dieser Multiplikationen in der Zeichenfolge „3,90625e+17“ aus.
Es kostete mich einige Mühe, diese Zeichen in einen, für mich verständlichen Wert übertragen zu lassen: „3,90625e+17“ soll dreihundertneunzig Billiarden sechshundertfünfundzwanzig Billionen bedeuten, eine schier unvorstellbar große Zahl.
So unvorstellbar viele, unterschiedliche Gen-Kombinationen könnten also von Cucumis sativus theoretisch gebildet werden, so viele genetisch unterschiedliche Gurkenpflanzen könnte es geben…
Auch wenn wir nur die (geschätzt) 1.000 Gene betrachten, die eine Gurke zu einer Gurke machen, und lassen von ihnen nur jeweils drei Varianten existieren, dann müssten wir 1.000 x 1.000 x 1.000 berechnen, um all ihre Kombinationsmöglichkeiten zu erfahren. Mein Rechner gibt die Zahl 1.000.000.000.000 aus, eine Billion.
Nun mischen sich ja in einer Landsorte (einer begrenzten Population) nicht alle möglichen Gene frei miteinander; in einer Population sind immer nur eine gewisse Anzahl an Varianten pro Gen vorhanden.
Rechnen wir also nur mal mit zwei Varianten pro Gen pro Population; dann kommen wir auf 25.000 x 25.000 = 625.000.000. Es könnte also 625 Millionen Varianten in einer echten (regionalen) Landsorte geben.
In dieser Zahl sind selbstverständlich auch „Gurken“ enthalten, die für uns Menschen nicht als solche nutzbar sind.
Trotzdem: Lasst es nur 500 Millionen Varianten sein, die möglich wären, die für eine Selektion durch Klima und Umwelt zur Verfügung stünden, in denen neue, für uns noch nicht vorstellbare Varianten auftauchen könnten.
Ein derartige Berechnung der theoretisch möglichen, genetischen Varianten (Gen-Kombinationen) käme bei jeder anderen Nutzpflanzen-Art zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch bei jeder wild lebenden Art, wie dem Kartoffelkäfer, liegt die Anzahl genetischer Varianten ebenfalls in diesem Bereich, da die Anzahl der Gene und ihrer Allele bei allen „höheren“ Lebewesen ungefähr dieselbe Größenordnung hat.
An dieser Stelle möchte ich aber schon darauf aufmerksam machen, dass die Zahl neuer Varianten durch Mutationen in einem direkten Verhältnis zur Zahl der schon vorhandenen Varianten steht: Je mehr Varianten es gibt, desto mehr Varianten können wiederum durch Mutationen entstehen.
500 Millionen verschiedene Gen-Kombinationen, die in einer Nutzpflanzen-Art entstehen könnten, wären also möglich. 500.000.000, eine neun-stellige Zahl…
Nutzpflanzenvielfalt in Zahlen
Ihr seht, was Nutzpflanzenvielfalt sein könnte; eine einfache Rechnung am Beispiel der Gurke macht das mehr als deutlich, wie ich finde: 5.000 vorhandene zu 500.000.000 möglichen genetischen Varianten.
Die Pflanzenzucht-Industrie glaubt, zusammen mit den Sorten-Erhalter:innen, eine Größenordnung von 5.000 (oder meinetwegen auch doppelt so vielen) genetisch verschiedenen Varianten, von denen züchterisch oder gen-technisch jährlich ein paar Varianten ausgetauscht werden, seien für die Zukunft ausreichend.
Nun, beide Gruppen bauen darauf, so weit ich weiß, dass wir Menschen die Klima- und Umweltbedingungen in Zukunft kontrollieren und stabil halten können, was ihr Vertrauen in diese wenigen Varianten erklärlich macht.
Die Erhalter:innen von „Genetischen Ressourcen“ in Gen-Banken sind der Meinung, mit 500.000 genetisch unterschiedlichen Varianten besser auf die Widrigkeiten der Zukunft vorbereitet zu sein; aber eigentlich vertrauen auch sie, wie die erste Gruppe, auf die 5.000, momentan vorhandenen, genetischen Varianten: Sie wollen diese 5.000 bei Bedarf nur mit dem einen oder anderen Gen „verbessern“, das sie „auf Lager“ haben.
Ich dagegen meine, dass wir nur mit wenigstens 500.000.000 genetisch einzigartigen Varianten, mit wirklicher Nutzpflanzen-Vielfalt, einigermaßen getrost in die Zukunft blicken können, die wir meines Erachtens niemals werden kontrollieren, ja, nicht einmal vorhersagen können.
Fazit
Wir sollten deshalb (wieder) sortenfreie Nutzpflanzen-Arten schaffen, deren Individuen sich frei miteinender mischen und die echten Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Wir sollten unseren Nutzpflanzen ihre Individualität zurückgeben.
Je mehr Varianten, desto größer die Überlebens- und Entwicklungschancen…
Alles andere ist fahrlässig, Augenwischerei oder Etikettenschwindel (wenn z. B. ein paar „Alte Sorten“ als „Landsorten“ vermarktet werden).
Nun, was denkt Ihr? Wollen wir nicht dafür sorgen, dass von jeder Nutzpflanzen-Art 500.000.000 Varianten in der Welt sind statt nur 5.050?
Wie das geht, könnt Ihr in „Gärtnern mit Landsorten“ ansatzweise erfahren; aber auch wenn Ihr nur Euer Saatgut selbst gewinnt und dabei nicht auf strenge Inzucht achtet, tragt Ihr zu mehr Vielfalt bei…
Lieber Jürgen,
egal ob Deine Berechnung stimmt oder nicht stimmt – ich mag mir jetzt nicht die Mühe machen und das ausrechnen – Fakt ist, es sind um ein Vielfaches mehr Möglichkeiten als Sorten. Ob jetzt an die Zahl noch 3 Nullen ranmüssen oder nicht, liegen die Möglichkeiten im Zahlenbereich, den sich niemand vorstellen kann. Vielleicht trifft es die wörtliche Beschreibung „unvorstellbare Vielfalt“ am besten. Ich würde aber gerne zu Deinem Zahlenspiel noch etwas ergänzen. Diese unvorstellbare Vielfalt kann nur von vielen Menschen erhalten werden, indem möglichst viele Menschen Nutzpflanzen beliebig sich kreuzen lassen. Selbst wenn Du die Voraussetzungen für diese unvorstellbare Menge verschiedener Zwiebeln (und Gurken, Zucchini, Kürbis, Kohl, Kartoffeln …) hättest, also 500 Mio Zwiebeln (und Gurken, Zucchini, Kürbis, Kohl, Kartoffeln …), ist es unwahrscheinlich, dass Du wirklich alle Genvarianten bei Dir hättest. Um die unvorstellbare Vielfalt zu erhalten, brauchst Du ein Vielfaches davon, damit statistisch jede Variante entstehen kann und langfristig auch erhalten bleibt. Das unterstreicht nur noch deutlicher, wie wichtig es ist, dass viele Menschen sich daran beteiligen. Vielen Dank für diesen tollen Beitrag, der wunderbar vor Augen führt, wie wichtig eigenes Saatgut ist.
Liebe Chrissi,
danke für Deine 100%ige Zustimmung!
Ja, Du hast es auf den Punkt gebracht: Von zentraler Bedeutung für die genetische Vielfalt unserer Nutzpflanzen, ihre Vermehrung und Erhaltung, ist die Saatgutgewinnung durch viele tausend Menschen.
Es ist letztlich egal, ob dabei auf Sortenreinheit geachtet wird oder nicht; bei jedem Vermehrungszyklus entsteht Neues.
Ich hoffe, dass sich aus diesem Grunde die Saatgut-Selbstversorgung mit der Zeit im Hobby-Garten und beim Bio-Anbau durchsetzt…
Viele Grüße
J:)
ich glaube, dass die Rechnung falsch ist. Es wäre eher 4^(25000), meiner Meinung nach.
Z.B. mit 3 Genen (anstatt 25000) und 2 Allelen, ich glaube man könnte alle Möglichkeiten schreiben und sehen, dass es 2×2×2 = 8 Möglichkeiten gäbe und nicht 3×3 = 9.):
Gen 1, Allele A und B.
Gen 2, Allele C und D.
Gen 3, Allele E und F.
Alle Möglichkeiten:
ACE, ACF, ADE, ADF, BCE, BCF, BDE, BDF, d.h. 8 Möglichkeiten.
Liebe Gertrud,
danke für den Hinweis; ich würde sagen, dass Du recht hast.
Dann brauche ich jemanden, der das wirklich korrekt berechnen kann; ich bin, wie gesagt, völliger Mathe-Laie.
Ich hoffe, es findet sich noch jemand hier…
Auf jeden Fall bin ich mir ziemlich sicher, dass sich die Größenordnung auch bei korrekter Berechnung nicht völlig verändert, und damit der grundlegende Unterschied in der Anzahl der genetischen Varianten zwischen „Sorten“ und „unsortierten Individuen“ erhalten bleibt, oder was meinst Du?
Viele Grüße
Jürgen
Hallo Gertrud, ich glaube, wir haben beide etwas vergessen:
Deine Rechnung zeigt die Kombinationen, die auf einem Gen möglich sind; es gibt aber zwei Chromosomen, und da gibt es mehr Möglichkeiten, die einzelnen Allele zu kombinieren. Der Einfachheit halber nehme ich nur zwei Gene A und B mit zwei Allelen A1, A2 und B1, B2; dabei komme ich schon auf diese 9 Kombinationen:
A1B1 – A1B1
A1B2 – A1B2
A1B1 – A1B2
A2B1 – A2B1
A2B2 – A2B2
A2B1 – A2B2
A1B1 – A2B1
A1B2 – A2B2
A1B1 – A2B2
…die Rechnung ist komplizierter, als ich dachte; ich hoffe, ich finde noch jemanden, der die entsprechende Formel kennt, alle Kombinationsmöglichkeiten zu errechnen…