Was heißt „samenfest“?

oder: Über den Zusammenhang von samenfestem Saatgut, Zucht-Sorten und Inzucht mit kümmerlicher Nutzpflanzen-Vielfalt.

Der Begriff „samenfest“ ist in einem Satz erklärt: Samenfest ist ein Same, wenn aus ihm wieder die gleiche Pflanze hervorgeht wie die, die ihn hervorgebracht hat. Anders ausgedrückt: Die Kinder-Pflanzen sollen ihren samenfesten Eltern möglichst in allen Belangen gleichen, so als seien sie Kopien von ihnen.

Das ist die Bedeutung von „samenfest“. Punkt.

Gestreifte Aubergine in Scheiben geschnitten

Samenfeste Aubergine mit Samen

Jetzt fragt Ihr Euch, warum ich einen ganzen, langen Beitrag zwei lange Beiträge zu „samenfest“ verfassen muss, wenn doch mit einem Satz alles gesagt ist?

Tja, um die Antwort auf diese Frage zu erfahren, müsst Ihr weiterlesen, auch wenn ich mit dem Untertitel schon einiges verraten habe.

Das Wort „samenfest“ wird mir zu häufig mit positiven Eigenschaften belegt, die ihm nicht zustehen; oder besser: Bestimmte negative Dinge, die mit samenfestem Saatgut in Verbindung stehen, werden gern übersehen.

Ich möchte aber, dass „samenfest“ die Bedeutung bekommt, die es wirklich verdient…

Mir könnt Ihr vertrauen! Wirklich!

Wenn Ihr weiterlest, müsst Ihr allerdings tapfer sein, sehr tapfer, das sage ich gleich; denn es wird Euch vielleicht weh tun, wenn ich ein liebgewonnenes Vorurteil zerstöre…

Ich werde nämlich das Wort „samenfest“ seines wohltönenden Klangs berauben, der ihm von Pflanzen-Züchtern, Samen-Verkäufern und Sorten-Erhalterinnen zugeschrieben und der von vielen schreibenden Gärtner:innen unbedacht weiterverbreitet wird.

In „The Jungle Book“ von Walt Disney (1967) beschwört die Schlange den Menschen…

…aber wer beschwört hier wen? Falsch! Auch Schlangenbeschwörer gaukeln Menschen etwas vor…

Es wird womöglich manche:n von Euch schockieren, wenn ich das fröhliche Samenfest, das Saatgut-Märkte und Samen-Tauschbörsen bald wieder feiern werden, empfindlich störe, indem ich dem, ach, so guten, grandiosen, samenfesten Saatgut seine hübsche Maske vom Gesicht reiße und darunter die hässliche Fratze der Inzucht zum Vorschein kommt.

Ja, samenfestes Saatgut ist Inzucht-Saatgut! Der Vater befruchtet die Tochter, der Sohn die Mutter, der Bruder die Schwester…

Das feine, samenfeste Saatgut entstammt dem Sündenpfuhl von Soddom und Gomorra!
Samenfestes Saatgut ist des Teufels!

O weh!

Auberginen-Samen mit einzelnen Keimen

Von den Auberginensamen, die ich über Jahre gesammelt und nun zusammengeworfen hatte, keimen noch ein paar…

Die Inzucht von F1-Hybrid-Saatgut (und seine anderen Schlechtigkeiten)

Inzucht kennt Ihr wahrscheinlich bisher nur in Verbindung mit F1-Hybrid-Saatgut. Gern wird mit gerümpfter Nase erzählt, dass die Eltern der so ertragsstarken, resistenten, schönen und einheitlichen F1-Hybriden, deren Samen Euch von den geldgierigen Saatgut- und Züchter-Konzernen verkauft werden, durch generationenlange Inzucht gequält und schwächlich gemacht werden.

F1-Hybrid-Saatgut wird deshalb in die Schmuddelecke verbannt und konsequent von jeder Saatgut-Tauschbörse ausgeschlossen. Inzucht! Iiiih! Böse! Fies!

Jawoll!

Blumentopf mit Erde und aufgelegten, vorgekeimten Auberginensamen

So begann meine letztjährige Auberginenpflanzung…

Gut, ich weiß, die Inzucht der Eltern ist nicht der schlimmste Makel des F1-Hybrid-Saatguts. Es werden ihm auch noch weitere schlechte Eigenschaften nachgesagt. So wird z. B. immer wieder behauptet, es sei nicht nachbaubar und müsse deshalb jedes Jahr neu gekauft werden.

Quatsch!

Ja, manches F1-Hybrid-Saatgut besitzt tatsächlich Eigenschaften, die wirklich mies sind, wie z. B. eine nicht reparierte, cytoplasmatische männliche Sterilität (CMS), die eine Vermehrung der F1-Hybriden in der F2 bei manchen Arten, wie z. B. bei Zwiebeln und Möhren, erschwert und die vor allem verhindert, dass wir die guten Eigenschaften der F1-Hybriden für die Vielfalt unserer eigenen Nutzpflanzen nutzen können…

Das ist wirklich übel.

Blumentöpfchen mit kleinen Auberginenpflänzchen

Die Voranzucht der Auberginen läuft…

Samenfestes Saatgut und Inzucht

Über samenfestes Saatgut dagegen werdet Ihr nirgends lesen, dass es etwas mit Inzucht zu tun hat! Überall lest Ihr: Samenfestes Saatgut ist edel! Und Gut! Für die Vielfalt! Und natürlich! Nachbaubar!

Tja, wenn das mal alles so wäre…

Zuerst einmal möchte ich Euch darüber aufklären, dass jede Pflanze, die fruchtbare Samen produzieren kann, nachbaubar ist, d. h., dass man sie vermehren kann. Auch verkreuzte Pflanzen und F1-Hybriden sind weiterzuvermehren, produzieren also Samen und Pflanzen, die nachbaubar sind!

Zu häufig wird von interessierten Kreisen der Eindruck erweckt, dass nur samenfestes Saatgut nachbaubar sei.

Hanebüchener Unsinn!

Vier Wochen später: Eine ordentliche Anzahl Pflanzen schaut pikiert drein…

Darüber hinaus muss ich Euch leider mitteilen, dass alle reinen Sorten, die „alten“ wie die neuen – nur reine Sorten haben samenfestes Saatgut! – durch (mehr oder weniger strenge) Inzucht entstanden sind; reine Sorten werden durch Inzucht erhalten und werden mit Inzucht verbunden sein, so lange ihre Samen samenfest sind.

Die heutigen Sorten werden deshalb auch „Zucht-Sorten“ genannt; richtiger aber wäre, sie „Inzucht-Sorten“ zu nennen.

Reine (In)Zucht-Sorten nehmen ihren Ausgang immer von einem Wunsch-Individuum (bei „Selbstbefruchtern“) bzw. von wenigen Wunsch-Individuen (bei „Fremdbefruchtern“). Die Nachkommen des Wunsch-Individuums bilden dann die samenfesten Samen der Zucht-Sorten, die Ihr kauft und mit gutem Gefühl in Eure Gartenerde streut.

Wer mir nicht glaubt, muss sich über Sorten-Züchtung informieren, vor allem über die bevorzugte Züchtungsmethode „Individual(!)- oder Einzel(!)-Auslese“ (wer mehr wissen will, bekommt hier einen guten Überblick über die Entwicklung der Zuchtmethoden sowie hier über die praktische Züchtung von Möhren-, Zwiebel- und Gurken-Sorten)…

Ihr seht (oder werdet sehen), auch die guten, alten, samenfesten Sorten haben sehr viel mit Inzucht zu tun (nicht nur das „böse“ F1-Hybrid-Saatgut)!

Offener Folientunnel mit Jungpflanzen, Gießkannen und sonstigem Gartengerät

Am 24. April müssen die Zarten in den Garten, geschützt durch einen stabilen Folientunnel

Aber reden wir doch mal über „Inzucht“: Was ist so schlimm an Inzucht?

Gute Inzucht, schlechte Inzucht

Zuerst einmal muss ich klarstellen, dass Inzucht nicht grundsätzlich schlecht ist; es gibt tatsächlich gute Inzucht (ich verteufele selbstverständlich auch die Zucht-Sorten-Inzucht nicht!)

Gute Inzucht bei „Selbstbefruchtern“

Der größte Teil unserer Nutzpflanzen-Arten vermehrt sich freiwillig und wunderbar durch Inzucht.

Weizen, Reis, Gerste, Hirse, Tomate, Paprika, Aubergine, Gartenbohne, Lein, Tabak u.a. sind solche Arten. Ihre Individuen befruchten sich in aller Regel selbst, d. h., die Befruchtung findet dann schon in der geschlossenen Blüte statt. Der (männliche) Pollen einer Blüte befruchtet also die (weibliche) Ei-Anlage derselben Blüte.

Das ist die „schlimmste“ Form der Inzucht, die es gibt: Ein-eiiger Zwillingsbruder befruchtet seine Zwillingsschwester (wenn’s die beiden denn geben könnte).

„Was ist denn nun so furchtbar an einer Inzucht, die fast alle unserer wichtigsten Nutzpflanzen treiben?“ Diese Frage sehe ich auf Deiner Stirn geschrieben stehen.

Ich antworte: „Na, erst einmal nichts! Das ist gute Inzucht!“ (Das dicke Ende dieser Inzucht folgt. Geduld!)

Die Inzucht der „Selbstbefruchter“ führt automatisch und zwangsläufig nach ein paar Generationen zu homozygoten, reinerbigen, vollkommen einheitlichen Individuen (sofern sie es nicht schon sind). Reinerbige Pflanzen pflanzen sich vollkommen identisch fort – so als würden sie sich ungeschlechtlich vermehren, fast so als seien sie Klone…

Ihre Samen sind samenfest. Zu einhundert Prozent.

Eure schönen, alten, samenfesten Tomatensorten z. B. treiben feinste Inzucht; deshalb könnt Ihr sie so leicht – ohne große Vorsichtsmaßnahmen – jedes Jahr selbst vermehren. Deshalb entstehen aus Euren Tomatensamen jedes Jahr wieder die gleichen Pflanzen mit den gleichen Früchten.

Bei diesen „Selbstbefruchter“-Arten ist Inzucht also völlig normal und vollkommen unschädlich; sie können sich hunderte von Generationen durch Inzucht vermehren, ohne zu schwächeln, zu leiden und Depressionen zu kriegen.

Es sind nämlich alle Eigenschaften, die rezessiv vererbt werden und sich im reinerbigen (homozygoten) Zustand negativ auswirken würden, längst durch tausendjährige Inzucht ausselektiert worden!

Hier haben wir also gute Inzucht vorliegen! „Selbstbefruchter“-Sorten sind gute Inzucht-Sorten! Ihre Samen sind gerne und freiwillig samenfest.

Schlechte Inzucht bei „Fremdbefruchtern“

Bei „Fremdbefruchter“-Arten (Mais, Roggen, Möhre, Küchen-Zwiebel, Rote Bete, Kohl, Kürbis, Gurke, Melone u.a.) sieht das nun etwas anders aus; sie besitzen Vorrichtungen, die eine Selbstbefruchtung erschweren oder gar ausschließen (deswegen heißen sie ja „Fremdbefruchter“!).

Die Ei-Anlagen ihrer Blüten können in der Regel nur durch den Pollen einer anderen Blüte befruchtet werden. Bei manchen Arten, wie z. B. den Kohlpflanzen oder einigen unserer Baum-Obstarten, muss der Pollen sogar von der Blüte einer anderen Pflanze (derselben Art) stammen.

Bei diesen Arten lässt sich also die höchste Form der Inzucht, die Selbstbefruchtung, nur schwer oder auch garnicht bewerkstelligen. Hier muss der Mensch nun Zwang für eine „Selbstung“ (wie die Selbstbefruchtung unter Zwang heißt) anwenden oder seine Vorstellungen von perfekter Einheitlichkeit und höchster Samenfestigkeit etwas zurückschrauben.

Wie schon in anderen Beiträgen (z. B. in „Tigerella, das Grüne Zebra und die Indigo-Rose“) berichtet, besitzen Züchter:innen mittlerweile ein Arsenal an technischen Möglichkeiten, mit dessen Hilfe sie den Pflanzen derartige Widerspenstigkeiten austreiben können; denn das Ziel aller Züchtung sind schöne, einheitliche, reinerbige Pflanzen (Sorten!), die aber nur die Inzucht möglich macht.

Wenn Ihr jedoch bei den Fremdbefruchter-Arten genau hinschaut – wirklich genau – werdet Ihr feststellen, dass die Pflanzen ihrer (scheinbar) samenfesten Sorten kleine, aber feine Unterschiede aufweisen, dass sie also nicht wirklich hundertprozentig reinerbig sind. Sie variieren in einigen, nicht so bedeutsamen Eigenschaften; sie weigern sich, 100%ig samenfest zu sein.

Aber nachdem wir sie weitere tausend Generationen vermehrt und dabei auf Inzucht-Toleranz geachtet haben, finden wir vielleicht auch unter den Nutzpflanzen-Arten, die jetzt noch „Fremdbefruchter“ sind, Pflanzen, denen Selbstbefruchtung, also Inzucht, nichts ausmacht, so dass wir in Zukunft ausschließlich „Selbstbefruchter“-Arten kultivieren werden, wie schon der „Vater der Genetik“, Erwin Baur 1921 wusste (s. nachfolgenden Kasten)…

Inzucht
Bei ein und derselben Art können, wie vorhin schon betont wurde, die einzelnen Sorten und Stämme sehr verschieden inzuchtsempfindlich sein. Ja, was das merkwürdigste ist, auch in Arten, die sehr inzuchtsempfindlich sind, treten ab und zu Individuen auf, die fast ganz unempfindlich für Inzucht sind. Derartige inzuchtsimmune Sorten bieten als Kulturrassen viele Vorteile.

Erwin Baur: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Pflanzenzüchtung, Verlag Gebrüder Borntraeger, Berlin, 1921, S. 52

Hey!

Aber jetzt mal im Ernst:

Was ist an Inzucht – und samenfestem Saatgut – wirklich schlecht?

Jetzt komme ich endlich zu dem Punkt, den ich Euch schon lange versprochen habe, der wirklich negativen Seite der Inzucht – und somit auch von samenfestem Saatgut.

Wie Ihr bisher vielleicht geglaubt habt, soll der einzige, offenbare Nachteil von Inzucht sein, dass manche Pflanzen darunter leiden und schwächeln. „Die starke Wirkung der Inzucht ist unverkennbar, außer durch geringe Wüchsigkeit und geringe Widerstandsfähigkeit sind die Inzuchtpflanzen oft auch durch sehr geschwächte Fortpflanzungsfähigkeit gekennzeichnet…“ (Erwin Baur, 1921, S. 50)

Diese so genannten „Inzucht-Depressionen“ betreffen aber eben nur die Nutzpflanzen-Arten, die sich lieber von „Fremden“ befruchten lassen (und auch bei diesen gibt es Ausnahmen, wie oben gezeigt). Sehr vielen Arten schadet Inzucht überhaupt nicht.

Was ist also schlecht an Inzucht und samenfestem Saatgut?

Wie ich oben schon angedeutet habe, gleichen „Selbstbefruchter“-Arten Klonen, sprich: Arten, die sich ungeschlechtlich, vegetativ vermehren.

Nun stimmen Selbstbefruchter-Arten nicht vollständig mit Klonen überein, da sie immer noch den Vorgang der geschlechtlichen „Gen-Vermischung“ (Meiose oder Reifeteilung und Befruchtung) vollziehen.

Dieser Prozess führt u. a. dazu, dass Mutationen sich ausprägen können, die rezessiv vererbende Eigenschaften erzeugen; denn nur durch den „Geschlechtsprozess“ können rezessive Gene homozygot (reinerbig, doppelt vorliegend) werden, damit in Erscheinung treten und so letztlich die Überlebensfähigkeit eines Organismus beeinflussen.

Dies kann bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung nur in dem äußerst seltenen Fall eintreten, wenn an beiden (an den homologen) Genen die gleiche Mutation auftritt.

Auberginenblatt von Roten Spinnmilben übersät

Spinnmilben haben zahlreiche Auberginen-Pflanzen befallen; aber nicht alle…

Die Frage lautet also im Endeffekt: Was ist schlecht an der ungeschlechtlichen Vermehrung?

Der Evolutionsbiologe Ernst Mayr schreibt in seinem Buch „Das ist Evolution“ im Kapitel „Evolution durch Variation“ folgendes: „Sie [die ungeschlechtliche Fortpflanzung] ist in nicht näher verwandten Gruppen unabhängig voneinander immer wieder entstanden, ist aber in der Regel schnell ausgestorben. Wie der Vorteil der sexuellen Fortpflanzung auch aussehen mag – dass sie einen solchen Vorteil bieten muss, zeigt sich eindeutig an der Tatsache, dass der ungeschlechtlichen Fortpflanzung durchgängig kein Erfolg beschieden ist.“ (s. auch Kasten am Ende des Beitrags)

Arten mit rein ungeschlechtlicher Fortpflanzung besitzen mithin ein größeres Aussterbe-Risiko!

Warum?

Wie ich schon im Beitrag „Die Kehrseite der Pflanzenzüchtung“ aufgezeigt habe, ist „Variation“ (Variantenreichtum) nicht nur für die Anpassung/Veränderung von Organismen (und die Pflanzenzüchtung) von außerordentlicher Bedeutung, sondern vor allem für das „Überleben des Lebens“ an sich; Variantenreichtum ist von existenzieller Bedeutung!

Die geschlechtliche Fortpflanzung führt zu einem weitaus größeren Reichtum an Variationen als die ungeschlechtliche Fortpflanzung; deshalb pflanzen sich die allermeisten Organismen geschlechtlich fort!

Blick in Folientunnel

15. Oktober: Paprika- und Auberginenpflanzen gedeihen; am 18. November können meine Schwester und ich endlich ernten…

Genau hier liegt der Nachteil von Inzucht und reinen Sorten. Inzucht führt zu homozygoten (reinerbigen), einheitlichen Pflanzen; Pflanzenzüchtung nutzt die Inzucht, um reinerbige Zucht-Sorten zu erzeugen, die das samenfeste Saatgut liefern, aus dem wieder einheitliche Pflanzen entspringen.

Inzucht und Zucht-Sorten führen also zu einer extremen Verringerung von Varianten!
Die stetige „Reinhaltung“ der Zucht-Sorten verhindert obendrein neue Variationen…

Die milliardenfache, individuelle Variation, die es bei Landsorten früher gab, ihr Variantenreichtum ist nach 200 Jahren Pflanzenzüchtung auf der Strecke geblieben (ich habe im Beitrag „Zeit für bessere Menschen“ versucht, Euch diese Auswirkung von Züchtung drastisch vor Augen zu führen)!

„Aber was ist daran schlecht, dass aus Samen ganz sicher ganz bestimmte Pflanzen wachsen? Wir wollen doch wissen, was wir ernten!“ werdet Ihr jetzt einwenden.

„Verdammt! Weil sich die einheitlichen Pflanzen, die aus samenfestem Saatgut erwachsen, nicht an veränderte Bedingungen anpassen können!“

Nur genetisch vielfältige Pflanzen können sich an Veränderungen anpassen; denn „Anpassung“ bedeutet, dass nur einige der un-einheitlichen Pflanzen Umweltänderungen überleben!

Einheitliche Pflanzen dagegen gedeihen entweder insgesamt oder sie sterben alle zusammen!
Einheitliche Pflanzen sind genetisch einheitlich und reagieren deshalb allesamt gleich!
Nix Anpassung – indem ein paar Individuen überleben…

…wie Arten, die sich rein vegetativ identisch fortpflanzen: Auf lange Sicht haben sie keine Überlebenschance!

Je geringer die Variationsbreite innerhalb einer Population ist, desto größer ist ihr Aussterbe-Risiko!

Innerhalb unserer Nutzpflanzen-Arten ist der Variantenreichtum mittlerweile äußerst gering

…und zu diesem extrem gefährlichen Zustand trägt das Hohelied auf samenfestes Saatgut bei…

Samenfestes Saatgut lässt keine bzw. nur geringe Anpassung an die Umweltverhältnisse zu

Deshalb ist es Schönfärberei und Vortäuschung falscher Tatsachen, wenn Verkäufer:innen von samenfestem Saatgut versprechen, die entstehenden Pflanzen könnten sich an Eure Gärten anpassen.

Ich sage Euch: Je samenfester, das heißt ja, je einheitlicher Eure Pflanzen sind, desto weniger Anpassung ist möglich!

Die Lehre dieses Beitrags lautet also: Je unterschiedlicher die Pflanzen einer Population sind, desto größer können die Unterschiede in den Umweltbedingungen sein, an die sich die Population anpassen kann! Diese Anpassung kann aber nur stattfinden, wenn die Pflanzen einer Population unter diesen Bedingungen regelmäßig vermehrt werden!

Das Schicksal gleichförmiger, samenfester, reiner Inzucht-Sorten ist besiegelt, wenn sich die Umweltbedingungen dramatisch ändern; sie „versagen“ dann, wie es so schön heißt.

Samenfestes Saatgut liefert tödliche Einheitsware
Samenfestes Saatgut ist nicht so gut, wie landauf landab erzählt wird…

Von Frost abgetötete Paprika-, Auberginen- und Tomatenpflanzen

25. November: Noch sind keine frost-resistenten Auberginen-, Paprika- und Tomatenpflanzen in Sicht…

Nicht ganz einheitliche „Fremdbefruchter“ oder „Selbstbefruchter“ mit verschiedenen, sehr ähnlichen Linien können sich zwar in geringem Maße den äußeren Bedingungen anpassen. Ich könnte auch sagen: Die Umweltbedingungen dürfen bei genetisch leicht un-einheitlichen Pflanzen ein klein wenig anders sein als die, unter denen sie bisher gut gewachsen sind; aber Anpassungen an größere Abweichungen vom Gewohnten sind nicht möglich.

Auch ein paar weitere, nicht 100% samenfeste, „alte“ und neue Zucht-Sorten, die heute von Öko-Züchter:innen und Sorten-Erhalter:innen auf den Markt gebracht werden, machen den Kohl nicht fett und die Individuen-Vielfalt nicht entscheidend größer, wie mein Beitrag „Nutzpflanzen-Vielfalt neu berechnet“ nachweislich zeigt.

Mischlingssaatgut ist besser als samenfestes Saatgut

Zur Absicherung gegen Klimaänderungen brauchen wir einen gewissen, möglichst großen Prozentsatz an Mischlingssaatgut, an Saatgut, dass nicht samenfest ist – wie z. B. neues Landsorten-Saatgut, sorten-unechtes Saatgut, „unreines“ Saatgut oder mit einem Wort: Hybrid-Saatgut (Mischlingssaatgut eben).

Das Überleben unserer Nutzpflanzen-Arten ist von ihrem Variantenreichtum abhängig, von ihrer Individuen-Vielfalt!

Ihr müsst Euch dann nur wieder daran gewöhnen, dass jede Pflanze und jede Frucht (vielleicht) etwas anders aussieht und schmeckt (was jahrtausendelang für Menschen kein Problem war, als es nur Landsorten gab)…

…aber ist die Rettung der Menschheit eine solche Un-Annehmlichkeit nicht wert?

Zutaten für das griechische Gericht Moussaka: Zwiebeln, Auberginen, Kürbis, Kartoffeln

„Moussaka“ lässt sich auch wunderbar aus „Landsorten“ von Aubergine, Zwiebel, Kürbis und Kartoffel zubereiten…

Hermann Kuckuck, Gerd Kobabe, Gerhard Wenzel: Grundzüge der Pflanzenzüchtung; 5. Auflage, Walter de Gryter, Berlin, 1985, S. 3-20
Hermann Kuckuck: Pflanzenzüchtung II – Spezielle gartenbauliche Pflanzenzüchtung (Züchtung von Gemüse, Obst und Blumen); Walter de Gryter, Berlin, 1957, S. 94-115
Erwin Baur: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Pflanzenzüchtung, Gebrüder Borntraeger, Berlin, 1921, S. 50-54
Ernst Mayr: Das ist Evolution; 3. Auflage, Wilhelm Goldmann, München, 2005, S. 111-146

Sexuelle versus ungeschlechtliche Fortpflanzung

Welche Schlüsse kann man daraus ziehen, dass ungeschlechtliche Fortpflanzung bei Eukaryonten so selten vorkommt? Es legt die Vermutung nahe, dass die ungeschlechtliche Fortpflanzung, die man heute bei Eukaryonten findet, keine ursprüngliche Eigenschaft ist, sondern ein abgeleitetes Merkmal. Sie ist in nicht näher verwandten Gruppen unabhängig voneinander immer wieder entstanden, ist aber in der Regel schnell ausgestorben. Wie der Vorteil der sexuellen Fortpflanzung auch aussehen mag – dass sie einen solchen Vorteil bieten muss, zeigt sich eindeutig an der Tatsache, dass der ungeschlechtlichen Fortpflanzung durchgängig kein Erfolg beschieden ist.

Dabei scheint die ungeschlechtliche Fortpflanzung auf den ersten Blick ein viel produktiverer Vorgang zu sein als die Sexualität.
Angenommen, in einer Population gibt es zwei Arten von Weibchen; diese bringen gleichermaßen jeweils 100 Nachkommen hervor, deren Zahl sich dann in jeder Generation auf zwei Überlebende reduziert. Die Weibchen des Typs A vermehren sich sexuell, und ihre Nachkommen sind jeweils zur Hälfte Männchen und Weibchen. Die B-Weibchen vermehren sich ungeschlechtlich und bringen zu 100 Prozent Weibchen hervor. Eine einfache Berechnung zeigt, dass die Population schon nach kurzer Zeit nur noch aus ungeschlechtlichen Weibchen des Typs B bestehen würde.

Ein Weibchen, das fruchtbare Eizellen ungeschlechtlich durch „Parthenogenese“ erzeugen kann, „vergeudet“ keine Keimzellen für die Produktion von Männchen und ist deshalb doppelt so fruchtbar wie ein Individuum, das mit sexueller Fortpflanzung Keimzellen beider Typen produziert. Warum begünstigt die natürliche Selektion dann nicht die Parthenogenes, das heißt die Fähigkeit der Weibchen zur Produktion von Eiern, die nicht durch ein Männchen befruchtet werden müssen?

Über den Selektionsvorteil der sexuellen Fortpflanzung wird in der Evolutionsforschung seit den achtiger Jahren des 19. Jahrhunderts gestritten. Bisher gibt es in der Auseinandersetzung keinen eindeutigen Sieger. Wie so oft in derartigen Diskussionen dürften mehrere Antworten richtig sein. Mit anderen Worten: Die sexuelle Fortpflanzung hat mehrere Vorteile, die zusammen gegenüber dem scheinbaren zahlenmäßigen Vorteil der Ungeschlechtlichkeit überwiegen. Zuerst müssen wir den ganzen Ablauf der Sexualität verstehen; erst dann wird deutlich, warum sexuelle Fortpflanzung trotz ihrer geringeren Produktivität auf lange Sicht erfolgreicher ist als die ungeschlechtliche Vermehrung.

Ernst Mayr: Das ist Evolution; Wilhelm Goldmann Verlag, München, 3. Aufl., 2005, S. 132-33