Wer wird Meister?
oder: Warum ich für einen Bundeswettbewerb der Selbstversorger:innen bin.
Es gibt ja immer noch Menschen, die sich mit einem gewissen Stolz „Selbstversorger:in“ nennen. Ich habe mich neulich im Beitrag „Mein bisschen Selbstversorgung“ schon mal grundsätzlich mit dem Thema befasst und dabei bekannt, dass „Selbstversorgung“ für mich einen unangenehmen Beigeschmack hat, genauso wie „Privatwirtschaft“.
Selbstversorger:innen wollen (nur) sich selbst versorgen und Privatwirtschaft bedeutet, dass jede:r den eigenen, privaten Gewinn maximiert, nach dem Motto: Hauptsache, mein Vorratskeller bzw. mein Konto sind gefüllt.
Mir fehlt dabei der Blick auf die Zusammenarbeit der Menschen, den zentralen Aspekt unseres Erfolges als Menschheit. Es wird kaum darüber geredet, wie viel sowohl die heutigen (Hobby-)Selbstversorger:innen als auch diejenigen, die in der Privatwirtschaft erfolgreich sind und zu Reichtum kommen, anderen Menschen verdanken; ohne die Kooperation ihrer Mitmenschen wären sie (wahrscheinlich) nicht einmal in der Lage zu überleben.
Ich möchte, dass Zusammenarbeit und Kooperation mehr gefeiert und belohnt werden als das Selbst und die eigene Leistung. Ich würde mir wünschen, die kooperative Seite des Menschseins mehr ins Bewusstsein rücken zu können; deshalb versuche ich noch einmal, ein bisschen am derzeitigen positiven Image von „Selbstversorgung“ zu kratzen, indem ich die Frage stelle: Was möchten diejenigen erreichen, die sich (möglichst viel) selbst versorgen wollen?
Ich habe da nämlich eine Vermutung…
Mit Hilfe der eingestreuten Fotos, die am 19. Juni dieses Jahres entstanden sind, biete ich zur Abwechselung und Entspannung die Möglichkeit, ein wenig über das kleine Stückchen Erdoberfläche zu wandeln, das sich zur Zeit in meiner Obhut befindet…
Noch mal kurz vorweg: Was bedeutet „Selbstversorgung“?
Bevor irgendwelche Missverständnisse auftreten, versuche ich den Begriff zu definieren: Im Deutschen wird „Selbstversorgung“ zumeist wörtlich genommen; es geht darum, sich möglichst weitgehend selbst zu versorgen, und zwar mit dem, was mensch so braucht: zuvorderst mit Nahrung, dann aber auch mit möglichst vielen anderen Dingen. Selbstversorger:innen möchten möglichst unabhängig von der „Außenwelt“ sein.
So wurde und wird zumeist auch „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ des John Seymour verstanden, das gern als „Selbstversorger-Bibel“ bezeichnet und als Anleitung gesehen wird, sich unabhängig von der arbeitsteiligen, modernen, industriellen Gesellschaft zu machen, wieder (mehr oder weniger) autark, im Einklang mit der Natur auf dem Land zu leben (was der Intention des Autors jedoch völlig widerspricht, wie ich neulich nachgewiesen habe).
Die meisten „Selbstversorger:innen“ betonen heute zwar immer wieder, dass sie auf keinen Fall autark leben wollen, das sei nicht (mehr) möglich; sie würden sich nur gern mit möglichst vielen Nahrungsmitteln selbst versorgen wollen.
Das ist auch das Credo des momentan bekanntesten Selbstversorgers, Ralf Roesberger, der Selbstversorgung richtig ernst nimmt und deshalb auf-Deubel-komm-raus möglichst viel auf seiner Fläche ernten möchte und dafür auch nicht vor F1-Saatgut und sonstigen Hilfsmitteln zurückschreckt (er betreibt übrigens bei Youtube den flott und amüsant geplauderten „Selbstversorgerkanal“).
Wer „Selbstversorger“ als schickes Ersatz-Wort für „Kleingärtner“, oder, ganz systemkonform, zur Verkaufsförderung oder zur Selbstvermarktung nutzt, den meine ich hier ausdrücklich nicht.
Ich meine auch nicht diejenigen, die jeden Anbau von ein paar Nutzpflanzen als „Selbstversorgung“ bezeichnen.
Mir geht es um die wirklich ernsthaften Selbstversorger:innen, die Idealist:innen, die dem herrschenden, marktwirtschaftlich-industriellen Konkurrenzsystem skeptisch gegenüberstehen und glauben, ihm durch Selbstversorgung etwas entgegensetzen oder es durch Selbstversorgung ändern zu können.
Gründe für die Selbstversorgung
Warum möchte jemand, der weiß, dass vollständige Selbstversorgung, dass ein „Aussteigen“ aus diesem System nicht möglich ist, sich trotzdem maximal selbst versorgen?
Es besteht keine Notwendigkeit dazu; denn im wohlhabenden Teil der Welt werden wir heute vollständig und ausreichend von der Agrar-Industrie, vom marktwirtschaftlich-industriellen System, versorgt (und nichts anderes ist möglich, um alle Menschen satt zu kriegen; dieser „Fluch“ lastet auf der Menschheit seit der „Vertreibung aus dem Paradies“ – der Jäger und Sammler).
Ja, höre ich eine Selbstversorgerin sagen: „Ich möchte gern möglichst viel gesunde Nahrungsmittel essen, und ich weiß nur, was ich esse, wenn ich mein Gemüse selbst erzeugt habe!“
Oder ein anderer Selbstversorger meint: „Ich möchte endlich wieder geschmackvolles Essen auf dem Teller haben, nicht diesen industriellen Einheitsbrei, und nur in meinem Garten kann ich mir selbst schmackhafte Sorten anbauen!“
OK, das sind ehrenwerte und nachvollziehbare Motive, um im Garten oder auf dem Balkon Gemüse und Obst wachsen zu lassen; aber steht nicht auch hier die Absicht im Vordergrund, möglichst für das eigene Wohl zu sorgen?
Es gibt auch Selbstversorger:innen, die sagen: „Ich möchte weniger Transportwege, Massenproduktion und Emissionen verursachen! Ich möchte mit meiner Selbstversorgung helfen, die Welt zu retten“; diese Menschen berechnen selten, wie hoch die Umweltbelastung durch ihren kleinen, privaten Anbau ist, was z. B. Hochbeete, Saatgut und Gartengerät an unwiederbringlichen Ressourcen verbrauchen, was das bisschen Selbst-Erbaute letztlich wirklich kostet.
Nur die eigene Arbeitszeit können sie sich auf ihrem Klima-Konto gutschreiben (was immerhin etwas ist, ganz klar!)
Auch diejenigen, die sich mit Hilfe der eigenen „Selbstversorgung“ auf den Zusammenbruch des arbeitsteiligen, industriellen Systems vorbereiten wollen, denken egoistisch und vertrauen nur auf sich selbst, nicht auf eine Kooperation mit den Mitmenschen.
Wettbewerb auf allen Ebenen?
Doch immer noch harrt die Frage der Beantwortung: Warum wollen manche Selbstversorger:innen unter allen Umständen eine maximal mögliche Menge an Kalorien aus ihren Beeten pressen – fast genauso wie die industrielle Landwirtschaft aus den Ackerböden?
Über diese Frage dachte ich eine Weile nach…
Irgendwann fielen mir dazu die gärtnerischen Leistungsschauen ein, die es früher verbreitet gab (und auch heute noch gibt): Der größte Kürbis, die dickste Kartoffel oder die schwerste Stachelbeere werden präsentiert und prämiert.
Geht es darum? Ist die maximale Selbstversorgung ein Wettbewerb: Wer hat die meisten Kalorien produziert? Der kommt aufs Siegertreppchen? Der oder die erringt den Meistertitel und darf sich „Wahrer Selbstversorger“ nennen?
„Ja, wäre da nicht ein jährlicher ‚Selbstversorger-Contest‘, mit Pokal und Preisgeld, genau das Richtige?“, fragte mich meine boshafte Innere Stimme.
Ich konnte ihr nur zustimmen und schlage deshalb für alle, die besondere Anreize und öffentliche Anerkennung brauchen, um Gartenprodukte zu erzeugen, hiermit einen „Bundeswettbewerb der Selbstversorger:innen“ vor, gesponsort von allen privaten Gewerben, die von uns Gärtner:innen leben!
Wer holt das meiste aus uns raus?!
Sorry, das war jetzt ein Verschreiber; ich meinte natürlich: Wer holt die meisten Kalorien aus einem Quadratmeter Boden heraus?
Auf die Plätze, fertig, los!!????
Alle anderen, bitte mit Ruhe und Gemütlichkeit sowie viel Freizeit-Spaß Obst und Gemüse ziehen; dann braucht mensch auch keine Sinnfragen zu beantworten. Bestenfalls ab und zu überlegen, ob das eigene Gärtnern nicht auch einen Nutzen für die Allgemeinheit haben könnte – und wenn ja, welchen?
Moin Jürgen,
okay, Du hast was gegen den Begriff „Selbstversorger*innen“ – und das nicht nur wegen des Gendersternchens oder -doppelpunkts. Ich gebe Dir recht, denn vom Wort her ist er Unsinn. Werfen wir einen Blick zurück in die Steinzeit: Damals musste wohl wirklich jeder selbst für seine Familie sorgen. Doch der Fortschritt begann, als der Erste feststellte, dass er seine gesammelten Blaubeeren auch gegen ein besonders scharfes Steinmesser vom Nachbarn eintauschen konnte. Also sammelte er wie verrückt Beeren, anstatt seine Zeit damit zu vergeuden, ein miserables Messer zu produzieren.
Also müsste „Selbstversorgung“ doch eigentlich bedeuten, seine Bedürfnisse bis hin zu TV und Smartphone durch Tauschhandel zu befriedigen. Ein erfolgreicher Landwirt schafft das, ein Hobby-Kleingärtner sicher nicht. Also verabschieden wir uns doch einfach von diesem sprachlichen Unsinn!
Liebe Grüße,
Gerd
Lieber Gerd, d’accord!
Viele Grüße vom Hobby-Kleingärtner!