Zwei Wochen in fünf Tagen
oder: Was ich in Istanbul erlebte und wie ich dort zu Saatgut kam.
Ich reise nicht gerne, ich lasse lieber reisen – und mir dann ausführlich berichten. Gerne verfolge ich auch filmische Dokumentationen über ferne Länder oder lese entsprechende Bücher; aber mich selbst ins „Ausland“ zu bewegen, dafür schleppe ich viel zu viele Unsicherheiten mit mir herum (oder ich bin als Gärtner an meinen Garten gebunden, bin zu bodenständig, um reisen zu können).
In diesem Jahr „musste“ ich allerdings zwei Mal „reisen“, meine vertraute Umgebung für wenige Tage verlassen und mich in fremde Welten begeben: zu meiner „Sammelreise nach Schweden„, besser: Stockholm, zwang mich meine Sammelleidenschaft (ich musste unbedingt eine bestimmte Kartoffelsorte haben), aber mein Trip nach Istanbul vom 27. April bis zum 1. Mai wurde nicht von einer (gärtnerischen) Leidenschaft bestimmt: Es gab nur die vage Idee, vor Jahren bei einem Kaffeetrinken mit meinem Freund Eduard ins Blaue hineingesprochen, dem gemeinsamen „Sehnsuchtsort“ Istanbul irgendwann einmal gemeinsam zuzustreben.
Die Idee eines solchen gemeinsamen Ausflugs wäre womöglich für immer eine fixe Idee geblieben, gäbe es da nicht einen Menschen, der solche Ideen gerne in die Tat umsetzt: Meine Nichte Karla. War sie soeben noch ein Jahr im fernen Peru, studiert sie bald darauf sechs Monate im fast so fernen Istanbul.
Tja, solche „Zeichen des Himmels“ deute ich gern zu meinen Gunsten: Wenn alles passt, geht’s auf nach Istanbul. Karla war mit einem Besuch einverstanden, Eduard und ich fanden einen Termin und schon war die Kurzreise gebucht.
Nun ist dieser Blog kein Reiseblog sondern ein Gartenblog; deshalb gibt es auch keinen Reisebericht sondern nur ein paar Bilderserien, verbunden mit der Aussage, die den Titel dieses Beitrages erklärt: Die fünf Tage in Istanbul fühlten sich an wie zwei Wochen, so viele Eindrücke hatten die paar Tage in dieser gewaltigen, uralten Stadt zu bieten, in einer Stadt mit fast 15 Millionen Einwohnern, die mit einem Bein in Europa steht und mit dem anderen in Asien, die teilweise Vertrautes zeigt wie bekannte Fahrzeugmarken, gläserne Hochhäuser und leicht bekleidete Mädchen, teilweise das, was der gemeine Mitteleuropäer mit Asien verbindet: Menschengewimmel, Improvisation, Zerfall, Essensstände in oder vor jedem Haus sowie fremdländische Kleidung, hier: vollkommen verschleierte Frauen.
Bilder vom 1. Tag:
Noch am Tag nach meiner Rückkehr war mir ganz schwummrig in der Magengegend, so als hätte ich Drogenpilze gegessen – und so war es: dieser Ausflug nach Istanbul war wie eine Droge, war ein irrer Trip, war einfach „geil“!
Bilder von der 1. Hälfte des 2. Tages:
Bilder des 3. Tages:
Bilder des 4. Tages:
Bilder vom letzten Tag:
Doch auch auf einem Trip bleibe ich Gärtner (mehr natürlich noch vor dem Trip): Gibt es Saatgut in der Türkei, das ich in meinem Garten verwenden kann?
Nicht umsonst ragt die Türkei weit nach Asien hinein und damit in das Ursprungszentrum von Auberginen, Zwiebeln, Möhren und Melonen. Und: In einem solchen Zentrum soll die Vielfalt dieser Gewächse weitaus größer sein als anderswo auf der Welt. Und: Die Türkei ist ein „rückständiges“ Land, in dem sich die wissenschaftlich-technischen Fortschritte, die sich u. a. in einer starken „Sortenbereinigung“ bemerkbar machen, noch nicht vollständig durchgesetzt haben.
Was lag näher, als meiner Karla eine „kleine“ Wunschliste zu schicken.
Natürlich spähte ich bei unseren Streifzügen durch die Stadt auch in manches Geschäft in der Hoffnung, einen Ständer mit Sämereien zu entdecken. Doch in Istanbul entdeckt der Besucher nicht einzelne Geschäfte mit gesuchten Artikeln sondern ganze Viertel, in denen nahezu alle Geschäfte dieselben Artikel feilbieten.
So wollte es das Schicksal, dass ich nahe der Galata-Brücke auf einen Ort stieß, an dem ausschließlich Gartenbedarf und Zooartikel verkauft wurden.
Das Schicksal wollte außerdem, dass ich sofort eine kleine Serie von Saatguttütchen erwarb und meine Nichte deshalb keine Chance hatte, mich über den großen Packen zu informieren, den sie schon besorgt hatte und mir schenken wollte.
Ich habe deshalb reichlich Saatgut aus der Türkei zu verschenken.
Samen der violetten Möhren werde ich noch in den kommenden Tagen aussäen. Die Samen von Auberginen, Zwiebeln und Melonen müssen aber noch ein Jahr warten – so wie ihr, liebe Leser*innen, wenn ihr wissen wollt, wie diese in meinem Garten gedeihen.
Einen Einblick in das Leben in der heutigen Türkei bieten zwei sehr lange Filme aus der Reihe „Bugünde Nerdeyiz? (Wo sind wir heute?)“ des TV-Senders „Tek Rumeli“ über ein Melonenfest in einem kleinen Ort im „europäischen“ Zipfel der Türkei, in Ahievren (Bezirk Malkara).
Ich finde die beiden Filme ganz wunderbar, weil sie so „langsam“ sind, so langatmig, so ausschweifend, so „dabei“ sind (so muss Fernsehen sein!) – und außerdem bin ich ein großer Fan der Musik, mit der die Filme ausgiebig hinterlegt sind.
Fast habe ich Lust, Türkisch zu lernen, um alles zu verstehen, was dort gesagt wird (falls jemand einmal Lust und Zeit hat, mir die Texte ins Deutsche zu übertragen, damit ich die Filme untertiteln kann, würde ich mich riesig freuen).
Ja, der „Heilige Geist“, der auf mich herabfährt und mich jede gewünschte Sprache sprechen und verstehen lässt, fehlt mir in solchen Momenten – und in fremden Ländern. (Gelernt habe ich durch meinen Besuch in Istanbul wenigstens, dass der Buchstabe „ğ“ wie das deutsche „h“ ausgesprochen wird; der Mann heißt also nicht „Erdogan“ sondern „Erdoahn“)
Eine andere Welt. Großartig, auch wenn man kein Türkisch versteht.
Vielleicht sollte ich ganz zum Schluss noch auf zwei Fragen eingehen, die mir mancheine*r stellen könnte:
- Hast Du keine Angst vor Anschlägen gehabt und
- Hast Du keine Skrupel gehabt, jetzt in die Türkei zu fahren, wo ein gewisser Erdoahn ein autokratisches, präsidiales System einführt und tausende verhaftet werden?
Ich hatte mehr Angst vor einem Flugzeugabsturz oder einem Erdbeben als vor einem Anschlag. Diejenigen, die die Anschläge 2016 und 2017 verübt haben und damit wahrscheinlich die staatlichen Einnahmen aus dem Tourismus gezielt gegen Null bringen wollten, haben ihr Ziel vollständig erreicht. Mir schien, dass außer uns so gut wie keine „westlichen“ Touristen in der Stadt weilten. Gegenüber dem touristischen Gewimmel, das ich neulich in Stockholm erleben durfte, waren hier vor allem einheimische Besucher auszumachen.
Erdoahn errichtet ganz klar ein diktatur-ähnliches Regime mit autoritären Zügen. Ich bin jedoch der Meinung, dass eine pluralistische Demokratie (mit „Wahlkampf“ als dem einzigen Mittel für Machtwechsel) nur auf der Basis eines entwickelten wirtschaftlichen Systems existieren kann. Eine extrem „rückständige“, d. h., nicht industriell entwickelte Gesellschaft wird bei einer freien Abstimmung immer entsprechend konservative Parteien wählen. Die Politiker dieser Parteien verwenden ein entsprechend konservatives Vokabular, um ihre Wähler zu gewinnen. Wenn sie deren Verhältnisse aber verbessern wollen, müssen sie alles dafür tun, eine industrielle Entwicklung in Gang zu setzen, womit sie aber letztlich diese konservativen Verhältnisse selbst zerstören.
Erdoahn ist dafür das beste Beispiel: er errichtet ein Regime mit konservativen Zügen, zerstört aber gleichzeitig rücksichtslos die althergebrachten Verhältnisse, indem er riesige Bau- und Infrastrukturprojekte verwirklicht. Ich prophezeie hiermit, dass auch die türkische Landwirtschaft in den kommenden Jahren ganz stark in diese Richtung umgebaut werden wird.
Wenn wir „EINE“ Welt wollen, kann das meiner Meinung nach nur eine technisch-wirtschaftlich entwickelte Welt sein, die auf gemeinsamer, friedlicher Regelfindung beruht. Man sieht, dass eine solche Transformation der vielen verschiedenen Gesellschaftsformen in diese eine selbst in den USA, einer sehr weit entwickelten Gesellschaft, zu Sehnsüchten nach einem Stillstand, nach einem Erhalt des Status-Quo führt. Gerade die Schwachen, deren Lebensform sich durch einen solchen Wandel (vorübergehend) am meisten ändert, wünschen sich, nicht unter die Räder zu kommen und stimmen gerne für den Starken Mann, der vorgibt, sie zu schützen.
Vielleicht tut er das auch, aber er hält die technisch-wirtschaftliche Entwicklung nicht auf. Das haben weder die deutschen Nationalsozialisten getan noch die iranischen Ajatollahs und auch Donald Trump wird das nicht tun; aber zu einem „Weltmarkt“ gehört auch ein „Weltsozialsystem“, das den Schwachen ein wenig Sicherheit gibt.
Und was hat das jetzt alles mit Deinem Istanbul-Besuch zu tun?
Ich möchte ertragen, dass in manchen Ländern ein wenig mehr Diktatur herrscht, so lange dabei die technisch-wirtschaftliche Entwicklung gefördert wird. Ich möchte die Kreise der Gesellschaft unterstützen, die sich in einem Land für mehr demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten einsetzen. Und die gibt es in jedem Land. Demokratie ist das Bohren dicker Bretter; deshalb besuche ich im Zweifelsfall auch diktatorisch regierte Länder.