Das Jahr der Ratten

oder: Neue Mitbewohner im Garten.

Nachdem ich mich nun seit ungefähr zwei Monaten mit einem Beitrag über Ratten herumgeschlagen habe, entschied ich gestern abend spontan, ihn in zwei drei Teile aufzuspalten, weil er sonst – auch für meine Verhältnisse – viel, viel, viel zu lang geworden wäre. Im ersten Teil will ich nun erst einmal nur Bericht erstatten über meine Erlebnisse mit Ratten. Im zweiten Teil versuche ich dann, die Menschheit, nun ja, Euch, ach, wenigstens den einen oder die andere von Euch von den Vorteilen der Koexistenz zu überzeugen.

Wie ein besserer Umgang mit Ratten aussehen könnte, erfahrt Ihr im 3. Teil, in „Die Wanderratte und wir“.

Schon seit Jahren hatte ich ja vermutet, dass es Ratten gewesen sein müssten, die meine Maispflanzen bestiegen und sich durch die Hüllblätter der Kolben genagt hatten, um an deren Körner zu kommen; aber ich war mir nicht sicher, da ich nie eine Ratte gesehen und außer den angenagten Maiskolben auch sonst nie Spuren von ihnen entdeckt hatte.

Von Ratten angefressener Maiskolben an einer stehenden Pflanze

Ratten klettern die Maispflanzen hoch und nagen sich durch die Lieschblätter der Kolben, wenn die Körner reif sind…

Erst als ich ihnen 2021 wirklich leibhaftig begegnet bin, war es klar: Ich habe wilde, braune Ratten der Art „Rattus norvegicus“ im Garten, Wanderratten also.

Die schwarzen Ratten der Art „Rattus rattus“ werden es nicht sein; denn die leben mehr in Häusern und finden sich kaum mehr hierzulande; wahrscheinlich weil alle nach Indien gezogen sind, wo sie in Frieden in einem Tempel leben dürfen und sogar gefüttert werden.

Schaut Euch nur den nachfolgenden Film an! Er zeigt Menschen ohne Scheu vor Ratten und Rattenkrankheiten…

Keine Angst vor Rattenkrankheiten… Ausschnitt aus „Welcome to the Rat Temple | National Geographic“

Ich hatte immer gehörigen Respekt, wenn nicht sogar Angst vor Ratten; aber bei jeder Begegnung kam ich ihnen etwas näher, zuerst nur körperlich, dann aber auch gefühlsmäßig, und irgendwann war es um mich geschehen: Ich hatte auch sie liebgewonnen – so, wie alle anderen Lebewesen! (Wer mein Verhältnis zu Menschen und sonstigem Leben kennenlernen will, kann die paar Zeilen des türkischen Dichters Nasim Hikmet lesen, die ich ans Ende dieses Beitrags gehängt habe und die mein Gefühl besser und präziser ausdrücken, als ich das selbst je könnte).

Nun, nicht jede:r von Euch, will etwas über frei lebende Ratten lesen. Die meisten von Euch werden eine gehörige Abneigung ihnen gegenüber verspüren; aber sie sind nun mal in der Welt – und manchmal ist es besser, den Tatsachen ins Auge zu blicken, als zu hoffen, ihnen nicht zu begegnen, panisch vor ihnen wegzulaufen oder ohne Sinn und Verstand gegen sie anzugehen – gegen unabänderliche Tatsachen wie z. B. Ratten.

Ihr werdet sehen: So schlimm ist es nicht, so schlimm sind sie nicht! Sie haben sogar Mitgefühl für ihre Mit-Ratten! Vielleicht auch für uns…

Helping a cagemate in need: Ausschnitt aus Empathy in Rats

Betrachtet diesen Bericht als Vorübung, als vorsichtige Annäherung an dieses Mit-Lebewesen; denn der letzte Teil wird ungleich härter, vielleicht sogar brutal: Er wird Euch nämlich vor allem mit den brutalen Bekämpfungsmaßnahmen und deren brutalen Auswirkungen konfrontieren.

Im jenem Beitrag will ich vor allem Mut machen, rechtzeitig den Verstand einzuschalten und über Kompromisse nachzudenken, anstatt bis zum bitteren Ende für den „Endsieg“ zu kämpfen. Das gilt nicht nur für private Konflikte und für Konflikte zwischen Menschengruppen, sondern auch für alle Konflikte mit Lebewesen, die als „Schädlinge“ gesehen werden: Der Totale Vernichtungskrieg hat selten zu totalem Erfolg geführt…

Manon Schweinfurths Experimente zum Sozialverhalten von wilden Ratten. Ausschnitt aus „Planet Wissen: Ratten – müssen wir Angst vor ihnen haben?“ Doku (2017, SWR ARD)

Achtung Ratte!

oder: Wie ist es, Ratten leibhaftig zu begegnen?

Nun erzähle ich aber erst einmmal von den drei Begegnungen, die ich bis heute mit Ratten hatte.

Die erste Geschichte stammt aus dem Jahr 1987 und ist kurz:

Eine Ratte drang damals durch die Toilette in den 2. Stock meiner Berliner Altbauwohnung ein. Ich bemerkte zwar schnell den nassen Toilettendeckel, erklärte ihn mir allerdings anderweitig. Erst als ein Apfel, der auf dem Boden meines Wohnzimmers lag, eindeutige Nagespuren aufwies, war ich mir ihrer Anwesenheit gewiss. Der umgehende, ungläubige Anruf bei einer Schädlingsbekämpfungsfirma klärte mich darüber auf, dass Ratten auf diesem Wege sogar bis in den 4. Stock gelangen können.

My good rat!

National Geographic Kids: Ausschnitt aus Rat Genius | Awesome Animals (Wie und wozu eine Ratte ihren Schwanz nutzt)

Umgehend habe ich damals Giftköder vor die Toilette gelegt und achte seitdem auf einen geschlossenen Klo(sett)-Deckel.

Die zweite Geschichte stammt aus dem Jahr 2021 und aus meinem Garten:

Nachdem zuerst Mäuse dann Ratten (nach ihren Kötteln zu urteilen) im Klo-Raum die Maiskörner von den Kolben geknabbert hatten, die dort in einer Kiste auf dem Waschbecken lagerten, hörte ich eines Tages, als ich auf dem Kompost-Klo saß, ein Rascheln in der Tonne mit Stroh, die direkt vor mir stand.

Das gefiel mir ganz und gar nicht.
Dass die Ratten einen Weg in den Klo-Raum gefunden hatten, empfand ich schon als nicht besonders prickelnd, dass sie sich aber nun auch noch dort eingenistet hatten, fand ich grenzüberschreitend.

Sofort holte ich eine der Drei-Meter-Bambus-Bohnenstangen und warf mit dieser, ängstlich in der weit geöffneten Türe stehend, die Tonne um. Augenblicklich schnellte eine Ratte heraus und verschwand in der entfernten Ecke hinter dem alten Wasserspülklo, das ich nicht ausgebaut, sondern mit allerhand Gegenständen belagert hatte.

Ratz-fatz!

Max-Planck-Gesellschaft, Forschungszentrum caesar, Bonn: Ausschnitt aus Wie sieht eine Ratte die Welt?

Da ich nicht sehen konnte, durch welches Loch sie eingedrungen und somit soeben verschwunden war, ohne die gesamten Materialien aus der Ecke zu räumen, ließ ich die Tonne umgekippt liegen und wandte mich wichtigeren Dingen zu in der Hoffnung, der Ratte mit dem Umsturz ihr Zuhause verleidet zu haben.

Am nächsten Morgen schlug ich mehrere Male aus sicherer Entfernung mit der Bambusstange auf die Tonne, um zu prüfen, ob sich meine Hoffnung erfüllt hatte.

Als nichts passierte, richtete ich die Tonne auf und zog sie vorsichtig in Richtung Tür. Kaum dort angekommen sprang die Ratte plötzlich heraus und verschwand nach draußen um die nächste Ecke.

Schreck lass nach!

Mir schwante nichts Gutes. Was konnte der Grund dafür sein, dass eine Ratte nicht das Weite suchte, wenn auf ihre Behausung getrommelt wird?
Mutterliebe? Verdammt, sie wars!
Drei junge Ratten versuchten aus der Tonne zu springen, nachdem ich im Folientunnel den Sack mit Stroh entfernt hatte.

Tonne und Strohsack

Den schönen Sack von der Kartoffelzucht Böhm (Europlant) haben die Ratten zernagt…

Tonne mit einer jungen Ratte

Seht Ihr die junge Ratte?

Was habe ich wohl mit ihnen gemacht?
Drei Mal dürft Ihr raten…
…nein, falsch! Ich habe sie nicht fach- und tierschutzgerecht getötet, sondern freigelassen, als ich den Garten verließ, und der Mutter so die Chance gegeben, ihre Kinder wiederzufinden…

IvoryPaw | Ratflix: Ausschnitt aus „Ein typischer Tag mit meinen drei Ratten Midnight, Toulouse & Minou“

…aber den Zugang zu meinem Klo-Raum habe ich ihnen versperrt. Sie waren tatsächlich wieder, wie schon 1987, durch das Wasserspülklo gekommen, mussten dabei aber dieses Mal nicht tauchen, da es seit Jahren unbenutzt ist…

Zum Dank für die gute Behandlung lieferten mir die Ratten im letzten Jahr Stoff für eine dritte Geschichte:

Im Frühjahr schaute mich eine erwachsene Ratte am hellichten Tage aus dem Carport heraus an, ganz niedlich, wie ich fand.

Im Sommer turnten drei junge Ratten, ebenfalls mitten am Tag, im Vorgarten in Lein und Hirse herum und bedienten sich ungeniert an den Samen dieser Pflanzen; sie ließen sich auch nicht stören, als ich sie aus drei Metern Entfernung ausgiebig fotografierte (die Bilder habe ich hier im Beitrag deko-rattiv verstreut)…

Im frühen Herbst sah ich dann sogar eine erwachsene Ratte auf dem Gartentisch herumlaufen; dabei war es nicht einmal Mittag. Sie hatte die Mohnstängel zum Aufstieg genutzt, die ich zum Trocknen der Samenkapseln an den Tisch gelehnt hatte.

Der gezielte Wurf einer Steckzwiebel ließ sie rasch den Rückwärtsgang einlegen, wobei ich vergaß, sie nach dem Verbleib der Mohnkapseln zu fragen….

Zum Jahresabschluss haben meine Ratten dann noch „Die Süße der Melonen“ entdeckt, sich als Hauptspeise die Kerne einiger Exemplare einverleibt und zum Nachtisch das Fruchtfleisch; das taten sie allerdings nur heimlich des Nachts (oder an den Tagen meiner Abwesenheit).

Von Ratten ausgehöhlte Melone

Ratzekahl ausgefressen…

Obwohl mich dieser Verlust schmerzte, habe ich ihn letztlich unter „Faire Bezahlung für geleistete Dienste“ verbucht; denn die feinen Näschen der Ratten wittern anscheinend, dass Melonen und Maiskolben erntefähig sind und beißen beide erst an, wenn deren Samen ausgereift sind.

Melone mit Spuren von Rattenbissen

Vielleicht kann ich mir das zunutze machen, wenn ich täglich vor Ort bin und schnell ernten kann, wenn sie mir mit ihren Nagezähnen das Reifezeichen in mein Erntegut eingravieren…

Als es dann im Oktober keine süßen Melonen mehr gab, nahmen sie auch mit (sauren) Gurken vorlieb. Ein paar der wertvollen Grex-Gurken fielen ihnen zum Opfer; aber sie ließen genug für mich und meine Samenleidenschaft übrig.

Von Ratten angefressene Gurken

Gurken, von Ratten ihrer Samen beraubt…

Mal sehen, was ich in diesem Jahr mit ihnen erleben werde, wenn ich ihre Lieblingsspeisen (noch) unzugänglicher mache (Melonen in Kaninchendraht einzuwickeln hat nicht wirklich geholfen) und ihnen weiteren Wohnplatz nehme (in meiner Werkstatt müsste dringend aufgeräumt werden)…

…außerdem muss ich mal sehen, was meine Nachbarn sagen, die ihrer mit Gift und Quälerei Herr zu werden versuchen; aber über diese übl(ich)en Machenschaften lasse ich mich ein andermal aus

Junge Ratte in Leinpflanzen kletternd

Junge Ratte labt sich an Leinsamen…

Nach so viel Tier- noch etwas Menschenliebe…

Nasim Hikmet:

Mein letzter Brief an Memet
…Vor dem Sterben, mein Sohn, habe ich keine Angst,
was auch immer kommen möge,
aber mitten bei der Arbeit manchmal
von einem plötzlichen Schrecken erfasst
oder in der Einsamkeit vor dem Einschlafen
die Tage zu zählen, ist schwer.
Von der Welt kann man nicht genug bekommen, Memet,
kann man nicht genug bekommen…

Lebe nicht in der Welt wie ein Mieter,
auch nicht wie in einem Urlaubsort,
sondern, als wäre die Welt dein Zuhause…
Vertraue dem Samenkorn, der Erde, dem Meer,
vor allem aber den Menschen.
Liebe die Wolke, die Maschine, das Buch,
vor allem aber den Menschen.
Habe ein Herz für die Trauer
des verdorrenden Zweiges,
des erlöschenden Sterns,
des verkrüppelten Tiers,
vor allem aber für die des Menschen.
Erfreue dich an allem Glück,
erfreue Dich an der Dunkelheit und am Licht,
erfreue dich an den vier Jahreszeiten,
vor allem aber erfreue Dich an den Menschen.

Memed’e Son Mektubumdur

Ölmekten, oğlum korkmuyorum,
ama ne de olsa
iş arasında bazan,
irkilip ansızın,
yahut yalnızlığında uyku öncesinin
günleri saymak biraz zor.
Dünyaya doymak olmuyor, Memet
doymak olmuyor…

Dünyada kiracı gibi değil,
yazlığına gelmiş gibi de değil,
yaşa dünyada babanın eviymiş gibi…
Tohuma, toprağa, denize inan,
insana hepsinden önce.
Bulutu, makinayı, kitabı sev,
insanı hepsinden önce.
Kuruyan dalın
sönen yıldızın
sakat hayvanın
duy kederini,
ama hepsinden önce de insanın.
Sevindirsin seni cümlesi nimetlerin
sevindirsin seni karanlık ve aydınlık,
sevindirsin seni dört mevsim,
ama hepsinden önce insan sevindirsin seni.

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