Das Leben bestraft auch den, der zu früh kommt
oder: Mit welchen Problemen meine Tomaten zu Jahresbeginn konfrontiert wurden.
In diesem Jahr sollte das Vorziehen der Tomaten besser klappen als im letzten Jahr: ich wollte genug Platz, genug Licht und genug Zeit haben – und außerdem alles immer vor Augen!
Nach ausgiebigen Diskussionen mit meiner besseren Hälfte ließ sie sich überreden, den Anzuchttisch im Wohnzimmer zu dulden – zumindest für maximal sechs Wochen.
Mitte Februar holte ich also die beiden Leuchtstoffröhrenhalter aus dem Keller, die alte Schreibtischplatte mit den beiden Böcken vom Balkon und verbarrikadierte die Balkontür des Wohnzimmers damit.
Auf einem Spaziergang eine Woche zuvor hatte sich auch endlich mein Gehirn erleuchtet und mir gezeigt, wie ich die Leuchtstoffröhren über den Pflanzen befestigen konnte, ohne Löcher in die Decke bohren zu müssen: mit Hilfe eines Wäscheständers auf dem Tisch.
Und wie es das Schicksal so will: Der guten Idee folgt oft auch gleich die notwendige Materialisierung. Am Ende dieses Spaziergangs traf ich auf einen geöffneten Trödelladen, der doch tatsächlich einen geeigneten Wäscheständer aus DDR-Produktion für ganze drei Euro im Angebot hatte.
Der Anzuchttisch stand also bereit. Was fehlte also noch, um die gesammelten und wintertags bestellten Samen zum Leben zu erwecken?
Anzuchttöpfe, Erde – und haltbare Markierungsstäbchen.
Im letzten Jahr hatte ich die Anzuchttöpfchen mit den unterschiedlichen Tomatensorten mangels ausreichender Plastestäbchen teilweise mit Papierstreifen gekennzeichnet; das erwies sich aber als fatal: Das Papier löste sich bald auf und mit ihm die Sortenbezeichnung. So hatte ich in der Wachstumsphase sehr viele namenlose Tomatenpflanzen im Folientunnel.
Das sollte mir in diesem Jahr nicht wieder passieren.
Ich sah mich also rechtzeitig im Baumarkt nach entsprechenden Markierungsstäbchen um. Als ich aber den Preis für 20 solcher Plastikstäbchen realisierte – 2,10€ – wollte ich mich doch lieber auf mein Improvisationstalent und mein Ober(ideen)stübchen verlassen.
Die notwendige Anzuchterde entnahm ich einem meiner großen Blumentöpfe, die das letzte Jahr mit Wildwuchs auf einem unserer Balkone überdauert hatten. Zur Sicherheit – vor allem, um alte Tomatensamen (und natürlich allen Unkraut-, hoppla, Beikrautsamen) abzutöten, erhitzte ich die Erde eine Zeitlang in unserem Bräter im Backofen; ich muss gestehen: nicht lang genug.
Die Töpfe (und eine innewohnende Schnecke) fand ich in den Abfallbehältern eines großen Friedhofs.
Nun kam der Abend, an dem ich den Wohnzimmertisch freiräumte, die Töpfe mit Erde füllte, die Samentütchen öffnete und einen Teil des Inhalts in die gedämpfte Erde versenkte. Jede Sorte erhielt einen großen Buchstaben und beides wurde fein säuberlich von mir in eine Kladde eingetragen. Topf für Topf wanderte vom Wohnzimmertisch auf den Anzuchttisch, deutlich sichtbar mit einem Plastikstäbchen und dem zugehörigen Buchstaben gekennzeichnet.
Alles war schön.
Die Tomaten krümmten bald ihre Stengel aus der dunklen Erde, streckten ihre Keimblätter den beiden Lampen über ihnen entgegen, zeigten das erste Laubblatt.
Ich hatte in jeden Topf 10-20 Samen gelegt; aber von den meisten Sorten wollte ich nur ein bis zwei (von den drei „besten“ Sorten fünf) Pflanzen behalten. Es musste somit unausweichlich die Stunde kommen, einigen von den kleinen Pflänzchen (den „Schwächsten“) das Lebenslicht auszublasen. Das ist nicht meine Stärke; doch ich schaffte es: nur das eine oder andere „Ersatzpflänzchen“ durfte das künstliche Licht auch weiterhin genießen.
Nach zwei Wochen wurden die sich prächtig entwickelnden Tomatenpflanzen pikiert, d. h., jedes in sein eigenes Töpfchen verpflanzt. Ganz klar: Der Anzuchttisch war zu klein, die Töpfchen quetschten sich allzu eng zusammen. „Wozu brauchst Du denn soviele Tomaten, die isst doch sowieso niemand alle?!“ Ja, für meine Liebste wäre die Lösung des Problems ziemlich einfach.
Nach wenigen Tagen hatten sich die Pflanzen vom Vereinzelungsstress erholt und wuchsen munter weiter.
Am 6. April war dann die Höchstdichte erreicht: die (garnicht) Harten mussten in den Garten. Meine Frau hatte sich bereit erklärt, mir beim Aufbau des Folientunnels zu helfen. Die Töpfe mit den Pflanzen kamen in große IKEA-Taschen und wurden in den 100km entfernten Garten transportiert. Der Aufbau ging (fast) reibungslos vonstatten, die Tomaten wurden eingesetzt und von meiner Frau mit Spiralstäben versehen.
So ließen wir die Kleinen zurück.
Am 12. April stand der nächste Besuch an. Der Garten sollte für die österliche Familienfeier vorbereitet werden. Als ich schwer beladen vom Auto zum Haus unterwegs war, kam mir mein jüngster Sohn Malik mit einer Hiobsbotschaft entgegen: „Der ganze Tunnel ist zusammengebrochen!“
Das war ein trauriger Anblick. Die Verankerung der Folie hatte dem erstbesten Wind nicht standgehalten; fast alle Bögen waren umgekippt und hatten die Stäbe umgebogen sowie die eine oder andere Tomate erschlagen. Ein Großteil war dem-Himmel-sei-Dank unversehrt.
Ich entfernte also die Folie, legte die wasserleitungsummantelten Eisenstäbe, die als Bögen dienten, zwischen die Tomatenreihen und widmete mich ziemlich niedergedrückt dem Rest des Gartens; denn der Winterzustand sollte eine Woche später nicht mehr erkennbar sein.
So ließ ich die Tomatenpflanzen am Ende des Wochenendes mit banger Hoffnung auf warme nächste Nächte zurück.
Ostern lag ich krank darnieder, die Feier fand ohne mich im Garten von Schwager und Schwägerin statt. Am Ostermontag hatte ich mich soweit erholt, dass ein Besuch des Gartens möglich war.
Die Hiobsbotschaft überbrachte dieses Mal Nachbar Uwe gleich am Gartentor: „Deine Tomaten sind hin, die haben die Kälte letzte Woche nicht überlebt; vielleicht zwei, drei, aber alle anderen sind braun.“ Ich hatte diese kalte Nacht (16. auf 17. April) in meiner ostwestfälischen Ex-Heimat erlebt und Schlimmstes befürchtet, aber natürlich das Beste gehofft. Nun war das Schlimmste also Gewissheit.
Komischerweise hatte mich der Anblick des zerstörten Tunnels mehr geschockt (wahrscheinlich, weil ich unvorbereitet davon getroffen wurde); aber die Traurigkeit über den Tod der Tomaten kam im Laufe des nächsten Tages, als ich einmal ein paar Minuten der Muße hatte.
Doch ich bin jemand, der sich nicht lange in der Vergangenheit aufhält, der mehr das Positive als das Negative sieht (mein Glas ist immer halbvoll, bilde ich mir zumindest ein): Immerhin haben fünf Tomaten im Freiland überlebt – und zwei im kleinen Gewächshaus – und fünf auf dem Anzuchttisch zuhause, die ich eigentlich einem guten Bekannten versprochen hatte (und der großzügigerweise nicht auf der Einlösung dieses Versprechens bestand).
Und von allen Sorten gab es noch genug Samen, so dass ich einen 2. Versuch starten konnte.
Und die eine oder andere Tomate sollte auch bei solch später Aussaat noch reifen – und mehr will ich ja nicht: nur einmal probieren, damit ich irgendwann meine 10 Lieblingssorten beisammen habe und ich mit dem Probieren aufhören kann.
Na ja – sage ich besser mal: Mit dem Probieren von jährlich ca. 15 Sorten; die eine oder andere werde ich ganz sicher immer neu ins (Test-)Programm aufnehmen.