Wahre Liebe
oder: Was Liebe mit Misserfolgen zu tun hat.
Ich kann nicht sagen, warum sich heute dieses Thema vorgedrängelt hat, obwohl ich gerade über „Meine letzte Spargelmahlzeit“ sowie über einen „Folientunnel als Wertanlage“ berichten wollte.
Aber wahrscheinlich ist es so: „Ex abundantia cordis os loquitur“, wie die alten Lateiner zu sagen pflegten. „Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund“ oder wie Martin Luther volksnah übersetzt hat: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“ oder „Wessen Herz voll ist, dessen Mund fließt über“, wie man heute sagen würde (aus: Christliches Evangelium nach Lukas 6,45 – Vom Baum und seinen Früchten).
Die Bibel ist schon ein großartiges Buch, wenn man sie nicht als Anweisung eines „Höheren“, eines Gottes, Kaisers, Papstes oder Diktators liest, sondern als Sammlung menschlicher Weisheiten.
Doch zurück zu meinem heutigen Thema: Zur wahren Liebe und warum ich in einem Gartenblog darüber schreibe.
Zuerst: Warum schreibe ich gerade heute darüber?
Vielleicht, weil mein neuer, riesengroßer Folientunnel nach äußerst anstrengenden Arbeiten nun endgültig steht.
Vielleicht, weil nun (fast) alle meine diesjährig geplanten Nutzpflanzen im Boden sind und vielversprechend in ihrem Wachstum gestartet sind.
Vielleicht auch, weil mein Herz vollständig mit innigem Gefühl für eine tolle Frau angefüllt ist.
Vielleicht auch nur deshalb, weil die Mauersegler seit letzter Woche wieder aus dem fernsten Süden zurück sind und den Himmel über Berlin mit irren Flügen zerschneiden.
Und warum schreibe ich ausgerechnet in einem Gartenblog über „Wahre Liebe“?
Weil ich mir sicher bin, dass alle Menschen, die sich hingebungsvoll mit Pflanzen befassen, die Fähigkeit zu dem Gefühl wahrer Liebe besitzen müssen (bei allen anderen Menschen bin ich mir nicht so sicher; sie können diese Fähigkeit haben oder auch nicht).
Nun muss ich natürlich erläutern, was ich unter dem Gefühl wahrer Liebe verstehe.
Dem Wachstum vertrauen
Wer ein (gutes) Samenkorn in die Erde legt, der glaubt daran, dass daraus etwas Bestimmtes wächst.
Er und auch sie vertrauen darauf (sie sind sich – natürlich auch aufgrund vieljähriger Erfahrung – sicher), dass sich aus dem Samenkorn auf jeden Fall etwas entwickelt.
Sich über die Entwicklung freuen
Sie verspüren während des Wachstums ein erhebendes Gefühl, sie freuen sich auf das Kommende, auf die erscheinenden Keimlinge, auf die sich entwickelnden Pflanzen, über die Blüten und/oder über die zukünftigen Früchte.
Sie verspüren ein tiefes Vertrauen in diesen Wachstumsprozess und eine tiefe Freude über die langsame aber stetige Entwicklung ihrer Pflanzen.
Diese beiden Gefühle machen einen großen Teil des Gefühls „Wahre Liebe“ aus; aber es fehlt noch etwas Entscheidendes.
Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken
Was passiert mit diesem Gefühl, wenn wider Erwarten „etwas schief läuft“, wenn das Wetter, Krankheiten und/oder Schädlinge den Traum von der wunderbaren Ernte platzen lassen bzw. die Ernte/das Ergebnis schmälern?
Ich habe den letzten Satz absichtlich „falsch“ formuliert. Wenn es Dir aufgefallen ist (oder Dir auch beim erneuten Lesen auffällt), weißt Du wahrscheinlich, was ich unter „Wahre Liebe“ verstehe.
„Wider Erwarten“ gehört nicht in den Satz.
Wer in bezug auf Pflanzen, auf deren Wachstum, ja, bei „Wachstum/Entwicklung“ ganz allgemein, gegenüber „der Natur“ oder hinsichtlich der Zukunft – es können auch die eigenen Kinder oder die Beziehung zu einem anderen Menschen sein – bestimmte, feste Erwartungen hegt, der kann meiner Meinung nach nicht wahrhaft lieben.
Wer Erwartungen hegt, hat ein ganz bestimmtes, konkretes Ergebnis vor Augen, das er durch eigene Einflussnahme erreichen zu können glaubt, auf das er ein Anrecht hat.
Bestenfalls denkt er wie ein Händler: Ich gebe etwas, Du gibst mir etwas Gleichwertiges dafür zurück.
Wahre Liebe handelt und gibt, ohne eine direkte Gegenleistung zu erwarten.
Das Buch Hiob, Altes Testament
An dieser Stelle möchte ich auf eine Geschichte aus der Bibel verweisen, die meiner Meinung nach schon damals ganz wunderbar diesen Sachverhalt dargestellt hat.
Wer sie liest, sollte jedoch für „DEN ALLMÄCHTIGEN“ immer „DAS ALLMÄCHTIGE“ einsetzen und ansonsten von menschlichen Erkenntnissen und Ansichten ausgehen, die dort gesammelt worden sind.
Wenn ich die Geschichte von Hiob in die Welt der Gärtner:innen übertrage, dann liest sie sich so:
Der Gärtner Hiob hatte alles richtig gemacht, er hatte sich an alle Regeln und Vorgaben des Gärtnerns gehalten und hatte so lange Jahre reiche Ernten eingefahren.
Alle hielten ihn für einen kundigen Gärtner, achteten ihn hoch und hörten auf seine Ratschläge.
Doch plötzlich läuft irgendetwas schief: Seine Pflanzen kümmern, kränkeln, gehen ein, er erntet kaum noch etwas – und das ein paar Jahre lang hintereinander.
Nachbarn und Freunde vermuten, dass er irgendetwas falsch machen müsse, ja, sie sind sich sogar sicher, dass es so sein muss, und Hiob solle doch mal in sich gehen, um seine Fehler zu entdecken.
Hiob beteuert, dass er alles wie immer, genau so wie vorgeschrieben, also richtig gemacht habe. Er ist sich keines Fehlers bewusst.
Diese Selbstgewissheit lässt er sich nicht nehmen.
Nach der dritten „Missernte“ hadert er aber mit seinem Schicksal und beklagt die Ungerechtigkeit der Welt.
Er versteht nicht, warum ihm nun trotz alle Mühen und Fürsorge nichts mehr gelingt.
Er erwartet für seinen Einsatz eine entsprechende Ernte.
Erst als er erkennt und vor allem anerkennt, dass bestimmte Dinge nicht in seiner Macht liegen und dies nichts mit „Gerechtigkeit“ zu tun hat, mit einem Bereich also, der nur innerhalb von menschlichen Gemeinschaften gilt, ab diesem Zeitpunkt gedeihen seine Pflanzen auch wieder.
Nun klingt der letzte Satz so, als müsse man dies nur anerkennen, um zuverlässig Erfolg zu haben; aber dann hätte man nichts verstanden: Wir sind „DEM ALLMÄCHTIGEN“ ausgeliefert, egal, was wir denken, tun oder anerkennen.
Aufwand und Ertrag stehen in Fällen, die mit „DEM ALLMÄCHTIGEN“ zu tun haben, so wie z. B. beim Gärtnern, nicht zwangsläufig und in jedem Fall in einem direkten Zusammenhang; das gilt es, sich bewusst zu machen.
Wer beim Gärtnern konkrete Erwartungen hegt, den machen Misserfolge ärgerlich, wütend, unglücklich oder gar verzweifelt; derjenige fühlt sich betrogen.
Wer bei Misserfolgen „nur“ Enttäuschung verspürt, ist auf dem richtigen Weg: Er (oder sie) erkennt, dass er einer Täuschung aufgesessen ist (er wird ent-täuscht). Er hat etwas angenommen, das unzutreffend war. Er sieht ein, dass er diese Annahmen ändern muss, dass er in bestimmten Fällen nichts erwarten darf, dass er nur erhoffen und erbitten kann.
Misserfolge führen bei einem wahrhaft Liebenden aus diesem Grund niemals dazu, ärgerlich, unglücklich oder verzweifelt zu sein, nicht einmal einen Augenblick lang, da bestimmte Tatsachen als gegeben angesehen werden.
Verändern, probieren, lernen, sich selbst entwickeln
„Wahre Liebe“ schließt selbstverständlich nicht jede mögliche Einflussnahme aus (sonst müsste man sie „Fatalismus“ nennen), aber sie ist immer offen für das Endergebnis, d. h., bereit, jedes mögliche Ergebnis zu akzeptieren.
Misserfolge dienen ausschließlich dazu, sich zu überlegen, was man ändern und besser machen kann, zumindest so lange, wie einem selbst (oder anderen) noch Veränderungsmöglichkeiten einfallen und man irgendeine körperliche Energie zur Verfügung hat.
Erst, wenn man alles versucht hat, gibt man auf; dann aber auch mit dem guten Gefühl, alles versucht zu haben, das in der eigenen Macht liegt.
„Wahre Liebe“ ist also:
- Volles Vertrauen in Wachstum und Entwicklung,
- Freude über jedes Wachstum und jede Entwicklung,
- Einfallsreichtum und Einsatz bei der Lösung von Problemen,
- keine Erwartungen zu hegen,
- Kraft, Misserfolge ohne (die geringste) Niedergeschlagenheit wegzustecken,
- und Dazulernen.
Sich über das Geschenkte freuen und dankbar dafür sein
Sagt selbst, sind Gärtner:innen nicht Paradebeispiele für wahrhaft Liebende: Sie streuen Samen in die Erde, hegen und pflegen ihre Pflänzchen mit großem Einsatz, setzen sich tapfer mit den Widrigkeiten der Umwelt auseinander, freuen sich über das Gedeihen ihrer „Zöglinge“ und über alles, was sie ernten können, und fangen im nächsten Jahr mit demselben Gleichmut wieder von vorne an?
Herzen gewinnen
Jäger, Krieger und Soldaten
erobern Herzen,
manchmal sogar im Sturm(angriff).
Sammler, Gärtner und Bauern
gewinnen Herzen,
indem sie Samen der Zuneigung säen.
Gerade habe ich diesen Beitrag entdeckt und bin seeeehr beeindruckt.