Weinlaublaube
oder: Wie viele Schritte bis zum neuen Weinberg in der Uckermark noch fehlen.
Ich beginne diesen Beitrag (als religjöser Mensch, der ich bin) mit einem Gebet:
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
„Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke ist doch ein schöner Anfang vom Ende des Jahres! Ich finde, es beschreibt perfekt die beiden Seiten des Herbstes.
Ich stehe auf Rilke (trotz seiner Bewunderung für den italienischen Faschistenführer Mussolini), auf seine scheinbar wie atemlos aus ihm herausfließenden, fein geformten Verse, obwohl sie mehr in den Süden passen, in südliche Weinbaugebiete, in denen Kunstwerke und Pflanzenranken mit Licht verwoben sind – in diese Gefilde träume ich mich auch zu gerne.
In meinem heimatlichen Landstrich aber, hier im (mittleren) Norden, mit seinem tristen Wetter, seinen eher wortkargen Menschen und seiner eintönigen Landschaft, wirken seine Verse deplaziert – so wie Weinreben eben.
Nicht, dass wir keinen Sommer hätten, keine schönen, leichten Tage, keine filigranen Blätter und hingehauchten Blüten, aber immer wieder verdirbt das Zarte in plötzlich hereinbrechender Kälte, macht der Winter die pflanzlichen Ornamente zunichte.
Seht Euch nur meine traurigen Weinreben oben an: Die Nacht von 12. auf den 13. Oktober versetzte ihnen mit -3°C früh den Todesstoß.
Zu meinem Standort, zu Brandenburg passt deshalb viel mehr Theodor Fontane; bei ihm spüre ich bei jedem Schritt Erdverbundenheit, Schwere, Kühle. Bei ihm gibt es kein leichtes, rasend-schnelles Dahinschweben, keinen kunstvollen Zierat, sondern mehr Ernsthaftigkeit, Sachlichkeit, nüchternes Beschreiben, den Blick des langsam dahinschreitenden Wanderers mit festem Schuhwerk; doch auch er findet auf seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg Weinreben, Weinlaub, zumeist aber zusammen mit alten, knorrigen, bodenständigen Birnbäumen.
So sieht er das in Mittenwalde, südlich von Berlin: „Gleichviel indes, was auf seiner Höhe gestanden haben mag, jetzt steht ein Häuschen auf demselben, das sich in Weinlaub versteckt und über dessen Dach hin, als ob es doppelt geschützt werden sollte, sich die Wipfel alter Birnbäume wölben. Im Spätsommer, wenn die blauen Trauben an allen Wänden hängen und die goldgelben Birnen, entweder vom Wind oder der eigenen Schwere gelöst, polternd über das Dach hin rollen, muß es schön sein an dieser Stelle.“
Und in Petzow zwischen Potsdam und Werder findet er dieses eher trostlose Bild mit Weinrebe: „Ein alter knorriger Birnbaum, der ziemlich unwirsch aussah, legte sein Gezweig nach links hin auf das niedrige Hausdach, nach rechts hin über ein Konglomerat unsagbarer Örtlichkeiten: Verschläge, Ställe, Kofen. Zwischen ihnen das gemeinschaftliche Gestade eines Sumpfes. Alles ärmlich, unsauber; selbst das Weinlaub, dem man dürftig und kunstlos ein Spalier zusammengenagelt hatte, spann sich verdrießlich an der Hinterwand des Hauses aus. Ein unpoetischer, selbst ein unmalerischer Ort!“
Solche Beschreibungen sind meiner kleinen, fest umgrenzten Welt eher angemessen.
Es gab sie also auch hier, die Weinreben, in Brandenburg, ja sogar bei mir in der Nähe, in der Uckermark – und es gibt sie wieder. (Gestern habe ich außerdem erfahren, dass Weinbau auch noch im nördlicher gelegenen Mecklenburg-Vorpommern und sogar noch weiter nördlich in Norwegen, Estland, Lettland, Litauen und Kanada sowie auch weiter östlich in Polen erfolgreich betrieben wird).
Vieles ist nur eine Frage der Züchtung, von Kreuzung und Auswahl, von Anpassung.
Nun muss ich mal sehen, ob auch meine Weinreben (Gutedel, Silvaner, Blauer Portugieser und St. Laurent) den hiesigen Klimabedingungen standhalten und im nächsten Jahr wieder frisches Grün, üppige Ranken und süße Trauben wachsen lassen oder ob sie schon von unserem Wetter ausgelesen worden sind.
Das wäre traurig – wo ich doch gerade in diesem Jahr endlich die nächsten Schritte auf dem Weg zur Terrasse mit Weinlaube zurückgelegt habe; der erste Teil des Spaliers steht, wenn auch noch wacklig, und hat den Weinreben schon entscheidenden Halt gegeben. In der folgenden, umfangreichen Bildergalerie kannst Du die Schritte verfolgen.
Der diesjährige Sommer war ideal für die Trauben; sie waren fett und süß, obwohl ich sie erst sehr spät, am 28. Juli, ausgedünnt habe, die Blätter kaum von Mehltau befallen.
Ich habe in diesem Jahr keinen Saft aus ihnen gepresst, wir haben sie einzeln, Stück für Stück genossen.
So muss ich wieder einmal hoffen, das mein Mühen – und das meiner hilfreichen Liebsten – nicht vergeblich war; denn ohne den Zauber frühlingsfrischer, hellgrüner Weinblätter besteht die Gefahr, dass die letzten Schritte, die auf dem Weg zu einem schattigen, weinlaubüberwachsenen Sitzplatz hinter dem Haus noch zu gehen sind, ungegangen bleiben; es sind nicht mehr viele: Die Pläne sind ausgearbeitet, das Material liegt bereit. Lest den Bericht in einem Jahr! (P. S. vom 20. Dezember 2020: Fünf Jahre später ist er immer noch nicht erschienen)